Der Krieg in der Ukraine hat den Westen wachgerüttelt. Kurz vor Ausbruch schrieb ich in der Weltwoche, Putin könne sich als «heilsamer Realitätsschock» erweisen, die Amerikaner und Europäer aus ihren Träumen von Solarzellen, Gender-Toiletten und einer Welt ohne Militärausgaben aufschrecken. Der Satz wurde mir um die Ohren geschlagen, doch er stimmt, auch wenn ich beim Schreiben nicht mit einer russischen Invasion in der Ukraine gerechnet hatte.

Die Reaktion des Westens auf Putins Entscheidung war erstaunlich. Egal, ob man die Waffenlieferungen und den Wirtschaftsboykott für richtig oder für falsch hält: Putins These von der unwiderruflichen Dekadenz und Schwäche des US-dominierten Westens hat sich als verfrüht erwiesen. Der Westen ist überlegen, stärker als die Russen, vermutlich stärker auch als die Russen, die Chinesen und die aufstrebenden Inder zusammen, technologisch, militärisch und was den Faktor Soft Power angeht. Wer sich gegen den Westen auflehnt, lebt gefährlich.

Westen ist kein geografischer Begriff. «Westen» meint bestimmte politische Institutionen und gesellschaftliche Sitten: individuelle Freiheit, Eigentum, Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft. Die Entwicklung des Westens ist massgeblich geprägt von den See- und Inselmächten Grossbritannien und USA. Seemächte sind offener, demokratischer und freiheitlicher organisiert als Landmächte. Das lässt sich an der Weltgeschichte ablesen: Frankreich, Deutschland, vor allem Russland, aber auch China, klassische Landmächte, sind, waren zentralistischer, autoritärer, Ordnung vor Freiheit.

Heute verbreitet sich im Westen das Gefühl akuter Bedrohung. Putins Krieg in der Ukraine wird als Angriff auf den Westen und seine Werte gedeutet. Der Westen, heisst es, müsse sich gegen die Autokratien des Ostens wehren, Demokratie und Freiheit stünden auf dem Spiel. Das Gefährdungsempfinden scheint da und dort schon umzuschlagen in die zusehends aggressiv formulierte Forderung nach vorauseilender Selbstverteidigung. Die mit westlichen Waffen vollgepumpte Ukraine, aber auch Taiwan sind die jüngsten Schauplätze eines sich verschärfenden Stellvertreterweltkriegs West gegen Ost.

Am Rande einer Tagung in Berlin hörte ich den Satz: «Solange in Peking und in Moskau Autokraten regieren, bleibt die Welt ein unsicherer Ort.» Viele meiner Freunde, Sympathisanten und Befürworter der USA, sind dieser Auffassung. Sie sind der Meinung, dass der Westen, dass die Amerikaner und ihre Verbündeten alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um die russisch-chinesischen Ruhe- und Friedensstörer zu beseitigen. Man träumt von einer Welt, die einvernehmlich demokratisch regiert wird, nach Regeln, die der Westen schreibt.

Vielleicht vergisst der Westen unter dem Realitätsschock Putins einen seiner wichtigsten Werte: Pluralismus.

Ich stelle mir die Frage, warum es überhaupt Autokratien gibt. Warum sind die Russen und die Chinesen nicht längst auf den westlichen Zug aufgesprungen? Warum haben wir in Russland keine direkte Demokratie, kein gemütliches Siebnergremium wie unseren Bundesrat oder in China wenigstens eine parlamentarische Demokratie nach englischem Muster? Warum leben Russen und Chinesen nach mutmasslich anderen Werten als wir? Warum steht in diesen Völkern zum Beispiel die kollektive Freiheit der Familie, der Sippe höher als die Freiheit des Einzelnen wie bei uns?

Ich frage mich auch, ob es im Konflikt zwischen Ost und West wirklich um einen Konflikt von unterschiedlichen Werten geht. Mein Eindruck ist eher, dass es um die unterschiedliche Gewichtung von Werten geht, um Nuancen und Akzente. Werte sind Wegweiser des Handelns. Werte sind die Gebotstafeln, die Gesellschaften entdeckt haben, um in ihrer Umgebung zu überleben. Durch Meere geschützte Inselstaaten können sich mehr individuelle Freiheit erlauben als Landmächte mit offenen Grenzen. Daraus ergeben sich ganz unterschiedliche institutionelle Zwänge und Probleme.

Selbstverständlich sollte der Westen seine Werte verteidigen. Darum darf er es nicht zulassen, dass auf eigenem Boden westliche Grundwerte wie Meinungsvielfalt oder Freiheit von linken Fanatikern torpediert werden. Wichtige westliche Grundsätze sind aber auch die Toleranz, die Neugier und die Bereitschaft, andere Wertesysteme zu respektieren, solange sie das unsere nicht verdrängen wollen. Man muss seinen Feind kennen, genau verstehen, um richtig auf ihn zu reagieren.

Warum ist Russland anders regiert als die Schweiz? Ist Putin unser Feind? Und was steckt hinter dem Krieg in der Ukraine anzugreifen? Ist das wirklich ein Angriff auf «den Westen», auf «unsere Werte»?

Solche Fragen sind inzwischen, kein gutes Zeichen, unerwünscht. Ich habe versucht, in meiner Sendung «Weltwoche daily» (20. September, internationale Ausgabe) eine Antwort zu finden. Hier nur kurz: Der Selbstverteidigungstrieb des Westens darf nicht in Verfolgungswahn umkippen. Es ist gefährlich, die Sicherheitsinteressen anderer Mächte überheblich zu missachten.

Vielleicht vergisst der Westen unter dem Realitätsschock Putins einen seiner wichtigsten Werte: Pluralismus. Andere Länder, andere Sitten. Wir können dem Rest der Welt nicht unsere Lebensform aufzwingen. Politik hat viel mit Geschichte, allenfalls noch mehr mit Geografie zu tun. Natürlich hätten es alle lieber, wenn alle so wären wie sie. Die Sehnsucht ist alt, aber unerfüllbar. Unsere Welt ist ein vielfältiger, konfliktreicher Ort. Unterschiedliche Zivilisationen leben nach ähnlichen Werten, aber mit anderen Prioritäten, die eine Folge ihrer Geschichte und ihrer Lage sind.

Überheblichkeit macht blind und taub. Der Westen steht im Banne einer selbstgerechten Woke-Ideologie. Woke heisst, dass eine bestimmte Gruppe ihre Weltsicht und ihre Überzeugungen über alles andere stellt. Ich frage mich: Wie woke ist die Aussenpolitik der Amerikaner, der EU-Staaten, der Schweiz? Wie sehr vernebelt der Woke-Moralismus unsere Sicht? Friedliche Koexistenz bleibt das Gebot der Stunde. Sie ist nur möglich, wenn wir uns öffnen, wenn wir bereit sind, unsere Fehler zu sehen, andere Länder, andere Interessen zu verstehen, ihre Andersartigkeit zu akzeptieren. R. K.