Wenn man Steinböcken zusieht, wie sie durch steilste Felswände ziehen, als wär’s ein Spaziergang, könnte man blass werden vor Neid. Sogar Felskamine mit extrem schmalen Simsen bewältigen die Meisterkletterer ohne weiteres. Winzigste Vorsprünge bieten für einen Moment gerade so viel Halt, dass sich die Tiere davon abstossen können. In Zickzacksprüngen hüpfen sie zwischen den beiden Felswänden hin und her, bis sie am Fuss des Felskamins angelangt sind.

Wie Fliegen an der Wand

Dieses Kunststück gelingt ihnen nur deshalb, weil sie für ein Leben im Fels perfekt beschuht sind. Steinbockhufe sind eine Kombination aus Spikes und Haftsohle. Die harten Kanten und Spitzen der Hufe keilen sich selbst in kleinste Vertiefungen ein, die radiergummiweichen Ballen geben Halt auf glatten Felsplatten. Wer sich eine Vorstellung davon machen will, wozu ein Steinbock imstande ist, möge sich im Netz die Videosequenzen über die Steinböcke an der Staumauer von Cingino im Piemont ansehen. Die Tiere steigen an der fast senkrechten Bruchsteinmauer herum wie Fliegen an der Wand – als hätten sie die Schwerkraft abgeschafft.

Steinböcke strahlen in jeder Phase ihres Lebens eine unglaubliche Gelassenheit aus. Selbst die Rangkämpfe der Böcke, die im Dezember und Januar untereinander ausmachen, wer der Chef im Ring ist, verlaufen ohne Hektik. Die bis zu hundert Kilo schweren Männchen richten sich auf den Hinterbeinen auf und lassen ihre meterlangen Hörner mit voller Wucht aufeinanderkrachen. Dem Schwächeren wird dabei kein Haar gekrümmt. Unversehrt verlässt er den Ort seiner Niederlage, während sich der Sieger alsbald den Steingeissen widmet – auf eine Art, die auf uns fast komisch wirkt.

Wer eine Bezoarkugel um den Hals trug, war fortan gegen Gewehrkugeln und Stichwaffen geschützt.

Ein werbender Steinbock legt den Kopf weit zurück, so dass die gewaltigen Hörner nicht mehr bedrohlich wirken, lässt die Zunge flippern und gibt ein klägliches Meckern von sich. Dabei schnellt immer wieder ein Vorderbein ruckartig nach vorne – der sogenannte Laufschlag. Nur wenn es ihm gelingt, die Geiss zu beeindrucken, bleibt sie stehen und lässt ihn aufreiten.

Auf unsere Vorfahren haben Steinböcke mit ihrer unglaublichen Geländegängigkeit wie Zauberkünstler gewirkt. Kein Wunder, dass sie ihnen übernatürliche Kräfte andichteten und sich Heilung von ihnen erwarteten. Noch im 17. Jahrhundert war man überzeugt, dass Steinbockblut ein verlässliches Mittel gegen Blasensteine sei. Wer körperwarmes Steinbockblut trank, fühlte, wie Energie, Kraft und Furchtlosigkeit des Steinbocks auf ihn übergingen. Zermahlene Hörner wurden als Wunderpulver für verschiedenste Zwecke in alle möglichen Tränke gemischt, und der Genuss von Steinbockköteln befreite angeblich von Schwindsucht, Ischias und Gelenkentzündungen. Die Krönung aller Steinbockmedizin aber waren das Herzkreuz, ein verknöcherter Knorpel, und die Bezoarkugel, ein fest zusammengepresster, harter Ball aus abgeleckten Haaren und anderem Unverdaulichem, der sich im Magen von Steinböcken bildet. Wer so eine Bezoarkugel um den Hals trug, war nicht nur gegen Kopfschmerzen, Ohnmacht, Schwindelgefühle, Ohrenschmerzen und Herzrasen gefeit, er war fortan gar gegen Gewehrkugeln, Stichwaffen und jegliche Verletzungen so gut geschützt, als wäre er in den legendären gallischen Zaubertrank gefallen.

Selbstverständlich hatten diese wundersamen Heilkräfte ihren Preis. Wer einen Steinbock erlegen und an eine Apotheke verscherbeln konnte, hatte bis auf weiteres keine finanziellen Sorgen mehr. Bald wurden die intensiv bejagten Steinböcke selten, und schliesslich verschwanden sie ganz. Im Jahr 1809 wurde im Wallis der letzte Steinbock der Schweiz geschossen.

Schutz als Chefsache

Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Böcke auch in anderen Alpenländern so gut wie ausgerottet. Nur ein kleines Grüppchen von etwa sechzig Tieren hatte die Jagdlust des Menschen in einem streng geschützten Gebiet im Gran Paradiso überlebt. Der italienische König Vittorio Emanuele II. machte den Schutz der letzten Steinböcke zur Chefsache und liess sie von einer Profimannschaft bewachen: Wer hätte die letzten ihrer Art besser schützen können als eine Truppe, zu der auch ehemalige, gutbezahlte Wilderer gehörten? Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der klägliche Rest wieder auf rund 3000 Tiere vermehrt.

Zu gerne hätte auch die Schweiz wieder eine Steinbockkolonie gehabt, aber seine Majestät weigerte sich, auch nur ein einziges Tier zu verkaufen. Mit einer List kamen die Schweizer dann doch noch zu ihren Steinböcken: 1906 schmuggelte ein Wilderer drei wenige Wochen alte Steinkitze auf Schleichwegen zu den Eidgenossen. Bis 1933 gelangten weitere 53 Steinkitze in Nacht- und Nebelaktionen aus dem Aostatal in die Aufzuchtstation bei St. Gallen.

Heute leben wieder rund 19 000 Steinböcke in den Schweizer Bergen. Der König der Berge ist in sein Reich zurückgekehrt.

Die 3 Top-Kommentare zu "Apotheke der Alpen"
  • aschenbroedel

    Danke liebe Veronika Straass. Ihr Artikel über die Steinböcke haben Sie sensationell treffend und interessant geschrieben. Grossen Dank und Ehre diesem Wilderer Jahr 1906, der uns den König der Berge wieder in die Schweizerberge zurückbringen konnte. Nächsten Frühling fahre ich bestimmt ins Engadin, diese Könige der Berge aus nächster Nähe zu bewundern. Dieses Schauspiel, ein Video, direkt oben an Pontresina/Languard, hat mir letzten Frühling eine Bekannte zu meinem grossen Erstaunen gesendet.

  • yvonne52

    Wunderbare und majestätische Tiere. Wahre Kletterkünstler. Ich hoffe, sie stehen immer noch unter Schutz.

  • Thor der massive

    Zum Glück wurden sie durch die kranke Spezies Mensch nicht komplett ausgerottet! Diese stolzen Tiere wären ein arger Verlust gewesen für die Berge. Es kann aber eine Parallele zu der Dummheit mit Corona gezogen werden. Damals wurden die Steinböcke geschossen, da ein nicht bewiesener Nutzen angepriesen wurde! Der doofe Mensch hat sich davon blenden lassen und Tiere "ermordet"! Heute lässt man sich von einem unwirksamen Impfstoff blenden und zerstört Wirtschaft und Lebensgrundlagen!