Ich hatte das Bild mit dem alten Trinker, der in einer kleinen Einsamkeit erstarrt, vergessen nicht, aber es war nicht mehr präsent vor meinem inneren Auge. Das Bild vom verstorbenen Zuger Hans «Johnny» Potthof, der als junger Mann als Kanute an den Olympischen Spielen in Berlin teilnahm und im Alter alleine an grossen Tischen in stillen Wirtschaften sass. Eine Zeitlang hing es in meinem Speisezimmer, und jedes Mal, wenn ich am Esstisch eine Flasche öffnete, prostete ich dem alten Mann zu, damit er und ich nicht allein trinken mussten.

Manchmal erzählte ich ihm etwas oder las ihm vor. Von jenem Telefonat mit der Lady etwa, die später meine Frau wurde und das meiner Meinung nach fast alles sagt über die gelegentliche oder auch häufige Unfähigkeit einer gelungenen Kommunikation zwischen den Geschlechtern.

 

Mir geht’s nicht gut, Baby, sagte ich am Telefon. Wieso, antwortete sie, hat das etwas mit mir zu tun? Nein, wie kommst du darauf? Weil du in letzter Zeit so komisch bist. Komisch? So abwesend irgendwie. Ich war mit mir selbst beschäftigt, Baby. Stimmt. Es geht ja immer um dich. Baby! Hast du eine andere? Baby, bitte! Hast du? Natürlich nicht. Warum hast du dann das Telefon nicht abgenommen gestern Abend? Ich lag schon im Bett. Willst du mich verarschen? Wie gesagt, mir geht’s nicht gut. Und da hast du dich trösten lassen von irgendeiner Schlampe? Bitte, hör auf damit. Ich weiss genau, dass du eine andere hast. Woher denn, Baby. Ich spür das. Du spürst das? Ja. Aber ich lieg’ einfach nur im Bett, allein, und sterbe fast. Ich hab deine Lügen so satt. Baby, komm runter. Die Schlampe bei dir soll runter von dir. Baby, da ist niemand. Nur ich. Ich hab einen Schnupfen. Ganz furchtbar. Das wollte ich sagen.

 

Ich heiratete dann trotzdem, und irgendwann verschwand der alte Trinker aus dem Wohnzimmer und landete auf dem Estrich. Vor ein paar Tagen sass ich verschnupft in einer Wirtschaft, allein, an einem grossen Tisch und trank Weisswein, und da kam mir jenes Bild wieder in den Sinn, und ich wusste nicht, ob das eine angenehme Erinnerung war oder gar eine Art Spiegelung des Schicksals; dass dies auch mein Platz sein könnte irgendwann, stets allein an einem Beizentisch, den Blick nicht in die Vergangenheit versunken, geschweige denn in die Zukunft, sondern im dumpfen Nirgendwo des Seins, in den kühlen, dunklen Gewässern, in denen das Leben erstarrt.

Ich nahm einen Schluck, bestellte ein weiteres Zweierli, putzte mir die Nase und dachte, ob dieses Bild von mir, das ich gerade sah, tatsächlich ein so furchtbares wäre. Der alte Mann sass doch freiwillig in der Beiz, da waren keine Gehstöcke in der Nähe und auch kein Rollator, er sah nicht kränklich aus, und wahrscheinlich hatte ihn das Leben die schwierige Kunst des Stillsitzens mit sich selbst gelehrt. Metaphysisch gesehen, macht der Alte alles richtig.

Ja, so muss es sein, redete ich mir ein. Wer gegen das Ende seiner Zeit allein in einer Beiz trinkt und die Zeit zerfliessen lässt, muss nicht zwangsläufig schwermütig-depressiv sein. Man muss, sagte ich mir, nicht immer alles negativ interpretieren, weil das Leben auch so schwer genug ist und weil zwar viel, aber doch nicht alles von Melancholie durchdrungen ist.

Könnte ja sein, dass der Tod etwas Schönes ist, wer weiss das schon. Und es ist doch grossartig und nicht traurig, dass der alte Mann mit dem weissen Pudel, der gerade die Beiz betritt, einen Freund hat und der Hund ein Herrchen, und es ist auch nicht von Belang, wenn der Alte vergisst, das Häufchen seines Hundes einzutüten. Ist doch schön, wenn alte Leute mit E-Bikes in Funktionskleidung und Sportsonnenbrillen über Wanderwege rasen und auch noch lebend. Und sind diese alten Damen in ihren kleinen japanischen Autos nicht rührend, wenn sie mit zwanzig Stundenkilometern durch eine 30er-Zone fahren, als ob sie noch alle Zeit der Welt hätten?

 

Als ich zu Hause war, holte ich das Bild vom Estrich und hing es an die Wand vor meinem Schreibtisch. Ich goss mir ein Glas ein und prostete dem Trinker zu. Morgen wird ein besserer Tag, sagte ich ihm, und ich war mir sicher, dass er nickte.