Berlin

Wir treffen den früheren Aussenminister Ägyptens, Nabil Fahmi, in der Lobby des Berliner «Hilton». Tags zuvor diskutierte er im Journalisten-Club des Verlagshauses Axel Springer mit Ehud Olmert, ehemals Premierminister Israels, über Gaza. Gastgeber war das vom Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli gegründete Debattenforum «World Minds». Fahmi, Jahrgang 1951, entstammt einer ägyptischen Diplomatenfamilie, studierte Physik in Kairo, war Botschafter in Japan und den USA, schliesslich Aussenminister von 2013 bis 2014 und leitet heute das Beratungsunternehmen Lynx. Der perfekt Englisch sprechende Politiker äussert sich nachdenklich, abgewogen. Wir streifen alle Themen, Ukraine, Gaza, Islamismus, auch die Schweiz, eine ägyptische Sicht zur Lage der Welt.

Weltwoche: Herr Fahmi, was verbinden Sie mit der Schweiz?

Nabil Fahmi: Mein erster diplomatischer Posten war in Genf, und meine zweite Tochter wurde in Genf geboren. Immer wieder habe ich es genossen, die Stadt zu verlassen, so schön sie auch war, und in die traditionelle Schweiz zu gehen, in die verschiedenen Dörfer und Städte. Fasziniert bin ich von der Schönheit und der Energie Zürichs. Gleichzeitig kam ich natürlich aus einem Land des Nahen Ostens, wo wir die Dinge eher zufällig, gelegentlich und sporadisch angehen.

Weltwoche: Wie sehen Sie die schweizerische Neutralität?

Fahmi: Ich mag das Wort Neutralität nicht, wenn es Passivität bedeutet. Wir alle sind Teil einer Weltgemeinschaft, und wir müssen gemeinsam auf dieses Ziel hinarbeiten. Kann man mit seinen Freunden und mit seinen Feinden zusammenarbeiten? Ich sehe den Wert einer gewissen Distanz zu beiden Seiten. Ich mag das Wort neutral nicht, lieber ist mir «unvoreingenommen». Bewahren Sie Distanz, aber seien Sie nicht passiv.

Weltwoche: Was ist die Bedeutung des Kleinstaats in der Welt?

Fahmi: Die grösseren Länder profitieren von uns. Kleinstaaten können sichere Häfen bieten, gerade für die Wirtschaft. Hier ist die Schweiz zuvorderst zu nennen. Wir Kleinstaaten erinnern die Grossen daran, dass es uns gibt, dass sie der Arroganz der Macht nicht verfallen dürfen.

Weltwoche: Garanten der Vielfalt.

Fahmi: Es gibt Teile der Welt, die wir nicht kennen, und wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, sie respektieren, sie verstehen. Wir werden nicht alle gleich sein. Wir müssen die internationalen Regeln respektieren, aber letztendlich werden verschiedene Kulturen unterschiedliche Prioritäten haben. Nie darf ein Kleinstaat seine eigenen Rechte missachten, nur weil ihn ein Grosser bedrängt.

Weltwoche: Was ist das Erbe des Arabischen Frühlings?

Fahmi: Wenn man die Dinge immer stärker festschraubt, kommt der Punkt, an dem es nicht mehr geht. Jetzt geht es besser. Wir müssen auf die Jugend achten, sie ernst nehmen. Wir müssen den Wandel besser bewältigen als vorher. Zu viel Stabilität bewirkt Stagnation.

Weltwoche: Was ist das grösste Problem der Welt?

Fahmi: Die Weltordnung steht vor einem perfekten Sturm. Das System wurde auf der Mentalität nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut. Diese Realität hat sich geändert. Die Mentalität hat sich nicht geändert. Die Grossmächte betrachten sich nach wie vor als Mass aller Dinge. Und auf einmal ist sogar der kalte Krieg zurück.

Weltwoche: Was wäre zu ändern?

Fahmi: Die Grossmächte leben im Gestern. Sie müssen einen viel kollektiveren Ansatz verfolgen – als Grossmächte, aber nicht als Alleinherrscher.

Weltwoche: Ist die Uno noch glaubwürdig?

Fahmi: Leider nein. Der Uno-Sicherheitsrat ist das Spiegelbild der alten Zeit. Wer glaubt denn, dass die fünf ständigen Mitglieder noch die stärksten der Welt sind? Wer glaubt, dass sie den internationalen Frieden mehr unterstützen als andere? Gerade sie haben mehr Gewalt ausserhalb ihrer Grenzen angewandt als irgendjemand sonst. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir von einem Gleichgewicht der Kräfte zu einem Gleichgewicht der Interessen übergehen.

Weltwoche: Die alte Ordnung zerfällt. Putin und Xi seien schuld, heisst es im Westen. Was sagen Sie?

Fahmi: Das sehen nicht alle so. Vor fünf Jahren waren die Europäer stolz, dass es auf ihrem Kontinent nie mehr Krieg geben würde. Passen wir auf, dass unser Erfolg nicht in Überheblichkeit umschlägt und so zum Werkzeug des Scheiterns wird.

Weltwoche: Können Sie das ausführen?

Fahmi: Es besteht die Tendenz, einen neuen eisernen Vorhang zu errichten, anstatt zu versuchen, eine Lösung zu finden. Wenn wir jetzt alle diesen Weg einschlagen, werden wir in einem völligen Chaos enden, unabhängig davon, wer stärker ist, Amerika, Russland oder China.

Weltwoche: Wie konnte es so weit kommen?

Fahmi: Wir sind in Unordnung, weil es uns an weisen Führern mangelt. Man muss sich nicht immer einig sein, aber es ist besser, miteinander zu reden, als die Konsequenzen zu riskieren. Ich war oft in Kiew, in Moskau. Für mich ist der Einmarsch russischer Truppen eine klare Verletzung des Völkerrechts. Aber wenn der Westen davon spricht, Russland zerstören zu wollen, halte ich das für fatal.

Weltwoche: Kann die Ukraine Russland militärisch besiegen?

Fahmi: Gehen wir einen Schritt zurück. Der Westen hat die Sowjetunion nicht militärisch, aber wirtschaftlich besiegt. Folglich hätte der Westen nach dem Kalten Krieg gegenüber Russland mehr sanfte als harte Macht anwenden sollen.

Weltwoche: Und der grosse Fehler Putins war, dass er zu wenig sanfte Macht einsetzte, um die Ukrainer von Russland zu überzeugen.

Fahmi: Sie haben recht. Ich habe Putin getroffen, Februar 2014. Man merkte ihm an, dass ihn etwas bedrückte. Aber der grösste Fehler Putins war, dass er Kiew angegriffen hat, anstatt die Gebiete im Osten zu verteidigen. Wäre er dort geblieben, um zu verhandeln, wären die Spannungen heute weniger ausgeprägt.

Weltwoche: Schwach waren die Russen auch darin, ihren Standpunkt darzulegen. Das Argument, man wolle «Nazis» beseitigen, glaubte niemand.

Fahmi: Stimmt. Aber man muss auch sehen, dass die Briten und die Amerikaner nicht wollten, dass es Verhandlungen gibt. Das war der grosse Fehler des Westens. Mein eigentlicher Punkt aber ist: Der Westen hat gegenüber Russland die Soft Power vernachlässigt.

Weltwoche: Hätte man Russland damals in die Nato aufnehmen sollen?

Fahmi: Sie hätten Putin, als er das anregte, die Tür weit aufstossen sollen. Ich bin Ägypter und nicht naiv. Wir haben eine 7000-jährige Geschichte. Die Russen haben eine unglaubliche Tradition der Selbstverteidigung. Würden sie eine Niederlage akzeptieren? Ich weiss es nicht. Wenn man sie in die Enge treibt, was werden sie dann tun?

Weltwoche: Wie kommen wir aus der Sache wieder heraus?

Fahmi: Ich verstehe, warum der Westen nicht will, dass Russland gewinnt. Aber der Westen übertreibt, wenn er sagt, die Russen müssten verlieren. Wenn die grossen Jungs sich weiter gegenseitig bombardieren, leiden wir alle. Leider hatten wir früher, als ich junger Diplomat war und Geschichtsbücher las, ein ganz anderes Niveau an Staatsmännern.

Weltwoche: Lassen Sie uns über die Tragödie in Gaza reden.

Fahmi: Ich glaube, dass wir kurz davor sind, unsere Menschlichkeit zu verlieren. Wir sehen zu, wie Menschen in fürchterlicher Zahl und auf diese Weise getötet werden.

Weltwoche: Zivilisten.

Fahmi: Ja. Auf beiden Seiten. Wir gewöhnen uns daran, uns gegenseitig zu töten. Und vergessen Sie nicht: Gewalt erzeugt Gewalt. Der Besatzer hat die Pflicht, diejenigen, die er besetzt, gut zu verwalten, bis die Besatzung vorbei ist. Der Westen verliert, was ich eigentlich unterstütze: die Moral.

Weltwoche: Doppelmoral?

Fahmi: Sie haben keine Glaubwürdigkeit. Absolut keine. Glauben Sie wirklich, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine einen anderen Verstoss gegen das Völkerrecht darstellt als der Einmarsch Israels in den Gazastreifen? Sie argumentieren, dass ein ukrainisches Krankenhaus oder ein Kraftwerk angegriffen worden sei. Und das bedauere ich. Aber in Gaza gilt das gleiche Verbrechen als Selbstverteidigung. Wir züchten wütende Menschen.

Weltwoche: Was sagen Ihre Freunde, wenn Sie privat über den Westen reden?

Fahmi: Dass die Politiker im Westen ein Haufen Heuchler sind.

Weltwoche: Gibt es eindeutige Kriegsverbrechen in Gaza?

Fahmi: Ja, natürlich. Es sind mindestens 41.000 Menschen in Gaza getötet worden. 60 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder. Man darf weder Krankenhäuser noch Flüchtlingslager angreifen, nur weil man den Verdacht hat, dass dort vielleicht ein oder zwei Menschen sind, die man nicht mag. Dies ist eine Kultur der Unmenschlichkeit.

Weltwoche: Aber die Hamas-Terroristen haben es bewusst provoziert, indem sie ihre Bunker unter Wohngebieten und in Schulen anlegen. Israels Streitkräfte warnen vor Bombardierungen die Zivilbevölkerung.

Fahmi: Das ist Blödsinn. Erst vor zwei Tagen haben sie eine sichere, sichere Zone angegriffen. Wenn es überhaupt eine gibt. Also, sie definieren es als eine sichere Zone. Die Leute gingen dorthin auf der Grundlage ihrer Angaben, und sie griffen sie an.

Weltwoche: Warum gibt es in der arabischen Welt nicht mehr Empörung?

Fahmi: Die Regierungen kontrollieren die Demonstranten, halten sie in Schach. Es brodelt. Die Behörden in der arabischen Welt sind besorgt, dass wir unsere Menschlichkeit verlieren. Und wenn wir unsere Menschlichkeit verlieren und die Menschen auf der Strasse wütend werden, kann das nicht nur gegen Israel ausbrechen.

Weltwoche: Wie nahe sind wir an einer gewalttätigen Eruption?

Fahmi: Ich mache mir mehr Sorgen über das Saatgut. Die Bilder getöteter Zivilisten brennen sich ein. Die Überlebenden werden sich erinnern, dass die Israeli ihre Familien in einem Flüchtlingslager umgebracht haben. Letztlich gefährdet das alles auch die Sicherheit Israels.

Weltwoche: Was sagen Sie einem Israeli, der die zivilen Opfer bedauert, aber auf das Hamas-Massaker vom 7. Oktober verweist?

Fahmi: Sie haben eine kurzsichtige Sicht der Geschichte. Der Konflikt begann vor siebzig Jahren. Zweitens: Ihr eigener Premierminister hat die Hamas unterstützt, um die Zweistaatenlösung zu sabotieren.

Weltwoche: Es heisst, die sei nun endgültig vom Tisch.

Fahmi: Viele meiner intellektuellen Freunde argumentieren, eine Zweistaatenlösung sei sehr schwierig. Ich stimme zu. Aber was ist die Alternative? Sie sagen: ein Staat. Aber ist das ihr Ernst? Glauben sie wirklich, dass die Israeli und die Palästinenser unter einer Flagge zusammenleben wollen, nicht unter dem Namen Israel, nicht unter dem Namen Palästina, sondern unter einem anderen Namen mit gleichen Rechten in einem Gebiet? Glauben sie, dass das einfacher ist als zwei Staaten? Aber das politische Umfeld ist derzeit schwierig für Staatsmänner, die dieses Argument vorbringen wollen. Genau deshalb brauchen wir die internationale Gemeinschaft, um mehr Respekt zu zeigen und zu helfen.

Weltwoche: Im Westen wirft man den Ägyptern vor, auch sie seien Heuchler. Man lasse keine palästinensischen Flüchtlinge ins Land. Sind wir alle Heuchler, vereinte Heuchler?

Fahmi: Es ist genau das Gegenteil. Wir haben offen gesagt, dass wir auf humanitärer Basis diejenigen aufnehmen werden, die medizinische Hilfe benötigen, Flüchtlinge, und wir werden jede Menge humanitäre Hilfe leisten. Aber wir werden uns nicht beteiligen an einer ethnischen Säuberung, an einer Vertreibung. Wir hatten Angebote: Nehmt sie auf, wir geben euch Geld. Wir haben das nicht getan, weil es gegen internationales Recht verstösst.

Weltwoche: In Europa wütet der politische Islam. Was raten Sie?

Fahmi: Ich bin praktizierender Muslim, und ich bin stolz darauf. Ohne jegliches Zögern. Europa muss erwachsen werden. Wacht auf. Ich kann Ihnen Listen europäischer Randgruppen nennen, die im Laufe der Jahre weitaus gewalttätigere Aktivitäten durchgeführt haben als der politische Islam. Ich befürworte diesen Radikalismus nicht, aber man muss es ehrlich analysieren. Auch und gerade westliche Staaten haben ausserhalb ihrer Grenzen Gewalt angewendet, oft ohne Uno-Resolution. Ganz oben auf dieser Liste steht Amerika.

Weltwoche: Sie stellen die USA auf die gleiche Stufe wie eine Terror-Organisation?

Fahmi: Des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer. Ich mache keine Vorwürfe. Ich sage nur: Gewalt ist keine ausschliessliche Domäne des politischen Islam, sosehr ich ihn verurteile. Es gibt Randgruppen, einige extremer als andere. Man muss diese Randgruppen bekämpfen, mit aller Entschlossenheit.

Weltwoche: Was heisst das für die Migrationspolitik?

Fahmi: Es muss schon früher ansetzen. Wir müssen weniger Migranten produzieren. Wenn sie Hoffnung haben zu Hause, wandern sie nicht aus. Noch wichtiger ist Bildung. Es braucht soziales Engagement, internationale Zusammenarbeit: Hört auf mit sinnlosen Kriegen.

Weltwoche: Was ist der Silberstreifen am Horizont?

Fahmi: Die sozialen Medien, die Kommunikationsmittel sind ein wunderbares Werkzeug der Verständigung. Jugendliche in der arabischen Welt demonstrieren weniger häufig. Sie wollen ein erfolgreiches Leben. Sie wollen eine Zukunft, keinen Krieg. Der Osten öffnet sich. Immer mehr Junge schauen mit offenen Augen auf die Welt. Überall sind Chancen, auch im Westen. Das ist meine Hoffnung.

Weltwoche: Herr Fahmi, vielen Dank für dieses Gespräch.

Das Video-Interview finden Sie auf weltwoche.ch