Derrick», Folge 93, Titel: «Die Fahrt nach Lindau». Die Episode erzählt vom vermeintlichen Unfalltod des Geschäftsmanns Martin Gericke, gespielt von Klausjürgen Wussow. Mit seinem Wagen kommt Gericke des Nachts von der Strasse ab. Das Fahrzeug steht in Flammen. Die Leiche ist zur Unkenntlichkeit entstellt. Doch schon bald taucht Gericke heimlich wieder bei seiner Familie auf: Der Unfalltod war inszeniert. Am Steuer sass eine andere Person. Gericke wollte untertauchen, weil er in finanziellen Schwierigkeiten war.

Gerickes Sohn ahnt: Sein Vater ist ein Mörder. Gewissensbisse zerreissen ihn. Schliesslich stellt sich heraus, dass ein gewisser Roor, Freund von Gerickes Sekretärin, die Sache eingefädelt hat. In der letzten Szene der Folge knallt Derrick die Pistole, mit der der Fahrer erschossen wurde, auf seinen Schreibtisch. Man hat sie bei Roor gefunden. Gericke gibt den Erleichterten: «Damit ist ja wohl meine Unschuld erwiesen, nicht?» Derrick schaut daraufhin dem Geschäftsmann tief in die Augen: «Herr Gericke, es ist nicht immer nur der Mörder, der schiesst.»

 

Kein Unbescholtener

Nein, es ist nicht immer nur der Mörder, der schiesst. Sondern auch der, der zulässt, dass geschossen wird. Der Mitwisser. Der Mitahner.

Als die Folge im Mai 1982 das erste Mal ausgestrahlt wird, liegt der Zweite Weltkrieg gerade mal siebenunddreissig Jahre zurück. Wer bei Kriegsende Mitte zwanzig war, ist nun Anfang sechzig. Millionen Deutsche, die an diesem Frühlingsabend vor dem Fernsehen sitzen, wissen ganz genau, was Derrick ihnen in dieser Sekunde sagt: Man muss nicht selber schiessen, um ein Mörder zu sein. Man kann auch an einem Schreibtisch sitzen. Oder in einer Fabrik arbeiten. Es ist nicht nur ein Täter, der den Abzug betätigt. Oder einen Gashahn aufdreht.

Wie manisch umkreist «Derrick» wieder und wieder, Freitagabend für Freitagabend, das Thema Schuld. Eine Krimiserie bietet sich dafür an. Schliesslich geht es in einem Krimi genau um das: das Schuldigwerden eines Menschen. Doch auf ebenso subtile wie eindringliche Art gelingt es Drehbuchautor Herbert Reinecker, das Thema Schuld immer wieder von dem fiktiven Fall zu lösen. Hier geht es um das grosse Schuldigwerden, die Schuld zweier Generationen – zu denen auch Reinecker und der Hauptdarsteller Horst Tappert gehörten.

Stellvertretend für diese beiden Generationen versucht die Sekretärin Gerickes (die wunderbare Sissy Höfferer) ihr Handeln zu rechtfertigen: «Ich habe versucht, keine Fehler zu machen.» Und ergänzt: «Was richtig ist, ist nicht immer ganz klar.» Millionen Deutsche werden in diesem Moment verständnisvoll genickt und sich an ihre eigene Biografie erinnert haben. Doch Reinecker hat seine Zuschauer in diesem Moment auf das Glatteis geführt. Denn manchmal ist sonnenklar, was richtig ist und was falsch. Etwa bei Mord. Oder bei Massenmord. In diesen Fällen kann man sich nicht dahinter verschanzen, dass nicht immer klar ist, was richtig ist und was falsch.

Mit peinlicher Akribie zeigt Reinecker die Selbstentschuldigungsmechanismen auf, die im Umfeld von Verbrechen wirken – den grossen und den kleinen. Gegen Ende besagter Folge schreit die verzweifelte Ehefrau Gerickes, stellvertretend für Millionen deutscher Ehefrauen: «Man kann ihm vieles vorwerfen, aber nicht Mord.» Manchmal jedoch ist die Mittäterschaft einfach nicht zu leugnen. Wie etwa in Folge 163, «Auf Motivsuche», in der ein Verdächtiger erklärt: «Ich habe mir ein falsches Bild gemacht. Von der Sache. Von den Leuten. Auch von mir selbst.» Worte, die nach dem Krieg so von Millionen Deutschen hätten gesprochen werden können. Und verzweifelt fügt er an: «Jetzt weiss ich, dass ich alles falsch gemacht habe. Es sind Mörder. Was war nur los mit mir, dass ich einen solchen Fehler machen konnte.»

Man muss nicht selber schiessen, um ein Mörder zu sein. Man kann auch an einem Schreibtisch sitzen.Um «Derrick» zu verstehen, muss man einen Blick auf Herbert Reinecker werfen, den Schöpfer und Drehbuchautor nicht nur von «Derrick», sondern auch von «Der Kommissar». Reinecker, der Urvater aller deutschen Fernsehkrimiserien, wird 1914 geboren. Er gehört zu jener Generation, die junge Erwachsene sind, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen – und häufig genug angetan sind von der Dynamik, der Kraft und Ästhetik der Bewegung.

So auch Reinecker. Er wird Mitglied der Hitlerjugend (HJ) und leitet die westfälische HJ-Zeitschrift Unsere Fahne. 1936 wird er Hauptschriftleiter der reichsweiten HJ-Zeitschrift Der Pimpf, im Krieg dann der Jungen Welt, schliesslich Mitarbeiter des SS-Blattes Das Schwarze Korps. Auch das Drehbuch zum Propagandafilm «Junge Adler» stammt von ihm.

Reinecker ist also kein Unbescholtener. Er weiss, wovon er spricht, wenn er über die Verführbarkeit des Menschen schreibt, über fehlgeleiteten Idealismus, über das Gefühl, versagt zu haben, über moralische Hybris, die in den Abgrund führt, über Schuld. Zugleich bleibt Reinecker ein Konservativer, ein Skeptiker gegenüber der westlichen Moderne, die Deutschland nach dem Krieg prägte. Und so ist die Serie «Derrick» bestimmt von der Melancholie eines Mannes, der lernen musste, dass es zu den liberalen Gesellschaften des Westens keine Alternative gibt, und der doch zugleich mit den Auswüchsen von Freiheit, Kapitalismus und Konsum hadert.

Dass «Derrick» in Deutschland nicht nur aus dem Programm, sondern sicherheitshalber auch noch aus der Mediathek genommen wurde, hat übrigens weniger mit Reineckers Vergangenheit zu tun als mit derjenigen des Hauptdarstellers Horst Tappert. Denn auch dieser war Angehöriger der Waffen-SS (übrigens in derselben Division wie Reinecker). Die genauen Umstände sind allerdings unklar. Sicher ist, dass Tappert ab März 1943 bei einer SS-Flak-Ersatzabteilung in Bad Arolsen (Nordhessen) ausgebildet wurde. Über seine späteren Einsätze und Verwendungen ist wenig bekannt. Er selbst gab an, Kompaniesanitäter gewesen zu sein.

«Derrick» startet im Oktober 1974. Es sind Jahre des Aufbruchs und der Veränderung. Die Studentenunruhen sind erst wenige Jahre her. Die Alltagskultur hat sich in den letzten fünfzehn Jahren massiv verändert. Rock ’n’ Roll, Beat, Jeans, T-Shirt und Minirock schockieren die Älteren. Traditionelle Vorstellungen von Pflicht, Gehorsam und Bescheidenheit werden in Frage gestellt. Die neue Generation, zumeist kurz nach dem Krieg geboren, gibt sich nicht mit Verzicht zufrieden, sondern huldigt einem neuen Hedonismus, sucht nach Selbstverwirklichung jenseits von Konventionen und stellt alte Rollenmuster in Frage. Schliesslich revolutioniert die Pille die Sexualmoral.

 

Täter sind keine Monster

Es entsteht eine neue Mittelschicht, die die Gewohnheiten, Regeln und Ordnungsvorstellungen der europäischen Gesellschaften neu definiert. Umgangsformen werden lockerer, Freizeit bekommt einen hohen Stellenwert, Konsumgewohnheiten ändern sich grundlegend. Massenwohlstand wird zum Alltag. Reinecker hat ein feines Gespür für die gesellschaftlichen Veränderungen. Aus heutiger Sicht erscheint «Derrick» wie eine verfilmte Sozialstudie über das Westdeutschland der 1970er und 80er Jahre. Reinecker lässt nichts aus: das aufkommende Drogenproblem, die Nachtklubkultur, die damals noch neuen Diskotheken und die unterschiedlichen Jugendkulturen.

Bei «Derrick» geht es daher um mehr als einfach nur darum, einen Täter zu finden. Schon die erste Folge macht das klar. Von Anfang an weiss der Zuschauer, wer der Mörder ist. Die Spannung entsteht nicht aus dem whodunit, sondern aus den Gesprächen, mit denen Derrick sich der Psyche des Mörders nähert und ihn schliesslich überführt. Reinecker wurde für diese Idee nach der Premiere scharf kritisiert. Die Resonanz war niederschmetternd. Also änderte Reinecker die Erzählweise. Der Grundgedanke jedoch blieb: Nicht die Tat steht im Mittelpunkt, sondern der Täter. Und damit immer die Frage: Wie werden Menschen zu Mördern?

Es ist die Grundfrage, die die Nachkriegsgesellschaft unterschwellig umtreibt: Wie werden ganz normale Menschen zu Tätern? Eine Antwort auf diese Frage ist anthropologischer Natur und zutiefst pessimistisch. Sie lautet: Jeder kann zu einem Mörder werden, immer. In Folge 108, «Dr. Römer und der Mann des Jahres», räsoniert der Leiter einer psychiatrischen Klinik: «Jeder Mensch kann einen Mord begehen, wenn Sie ihm die Gründe dafür liefern, was verhältnismässig leicht ist.» Der Mensch ist zu allem fähig. Auch der ganz normale Mensch. Täter sind keine Monster, sondern es sind die Umstände, die bei ganz normalen Menschen die Schattenseite menschlicher Existenz freilegen.

Viele Taten sind in gewissem Sinne Notwehr gegen die Zumutungen der modernen Gesellschaft.Zu den besonders dunklen Seiten des Menschen gehört seine Gier. Immer wieder bearbeiten Reineckers Drehbücher den Fluch des Geldes. «Geld selber ist ein Verbrechen», heisst es in der Folge «Auf Motivsuche». Und in einer anderen schliesst Derrick resignierend: «Alle wollten Prozente, jeder von jedem.» Reinecker ist Kapitalismuskritiker. Seine Milde, sein Verständnis für menschliche Schwächen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass er immer wieder klarmacht, dass der Wohlstand der Bundesrepublik dieser zugleich moralisch zutiefst geschadet hat. Geld, so illustrieren zahllose «Derrick»-Folgen, macht nicht glücklich, sondern weckt Gier, Missgunst und Habsucht.

Und noch eine weitere Triebfeder des Menschen betrachtet Reinecker mit grösstem Pessimismus: die Sexualität. Es sind die Jahre der sexuellen Revolution. Die Röcke werden kürzer, die Hosen enger, die Sitten lockerer. Die Opfer dieser neuen Sittenlosigkeit sind, so die Botschaft, die Menschen reinen Herzens – nicht nur, aber vorzugsweise Mädchen aus gutem Hause, naiv, unschuldig, romantisch. Die Zerstörung von Unschuld und Reinheit durch eine von Geilheit, Gier und Zynismus geprägte Welt – das ist ein wiederkehrendes «Derrick»-Thema.

Aus heutiger Sicht wirkt diese Gesellschaftskritik naiv, bieder und reaktionär – nicht zuletzt, weil sie von einem konservativen Frauenbild ausgeht. Die junge Frau ist bei Reinecker nicht stark, selbstbestimmt und resilient, sondern schwach, verführbar und permanent bedroht. Ihre Reinheit und Unschuld sind in andauernder Gefahr. Zwar gibt es auch Frauen, die sich Härte anerzogen haben, doch das sind eben Zynikerinnen, Opfer einer kalten, herzlosen, geilen Welt.

 

Kampf gegen den Zeitgeist

Aus der Gegenüberstellung von weiblicher Unschuld und Makellosigkeit und einer männlich dominierten Welt von Sex, Drogen, Geldgier und Rücksichtslosigkeit entsteht eine latente Traurigkeit: In der enthemmten Welt des modernen Kapitalismus mit seinen obszönen Vergnügungsmöglichkeiten ist alles Schöne, Wahre, Gute und Reine zum Untergang verurteilt.

Die vielleicht bekannteste Folge, die sich dem Thema der sexualmoralischen Verwahrlosung in dem charakteristischen melancholischen Grundton widmet, ist die Episode 77, «Dem Mörder eine Kerze», mit Sascha Hehn als schmierigem Pornodarsteller. Hier wie in anderen Folgen geschehen bei «Derrick» Morde nicht nur aus niedrigen Beweggründen. Viele Taten sind in gewissem Sinne Notwehr gegen die Zumutungen der modernen Gesellschaft, gegen ihre Rücksichtslosigkeit, ihren Schmutz, ihre sittliche Verwahrlosung.

«Derrick» ist konservative Kulturkritik für das Massenpublikum. Die Diagnose: Unsere Gesellschaft verwahrlost. Die Menschen werden immer rücksichtsloser, hedonistischer und gieriger. Dafür gehen sie über Leichen. Insbesondere die Sensiblen, innerlich Reinen, Musischen und Unschuldigen kommen dabei unter die Räder. Die Wölfe regieren die Welt. Das scheint zunächst banal – selbst wenn es stimmen sollte. Doch aus etwa vierzig Jahren Abstand muss man zugestehen, dass man damals immerhin noch echte Gesellschaftskritik jenseits des Mainstreams wagte. «Derrick» legte sich sowohl mit der politischen Linken als auch mit dem bürgerlich-liberalen Lager der Bundesrepublik an. Beide, politische Linke wie bürgerliche Wohlstandsbürger, werden als Zerstörer all dessen entlarvt, was eigentlich Bedeutung hat: Schönheit, Empfindsamkeit, Innerlichkeit.

Jede «Derrick»-Folge war im Grunde ein Kampf gegen den Zeitgeist. Das unterscheidet ihn von den aktuellen Produktionen, die die herrschende Moral nicht hinterfragen, sondern zumeist verteidigen. Bei «Derrick» ist der Mord Ausdruck einer kranken Welt. Heutzutage ist lediglich der Täter krank in einer Welt, die gesund wäre, wenn es ihn nicht gäbe. Schon an diesem Detail zeigt sich die Selbstgefälligkeit, die sich in unserer Gesellschaft breitgemacht hat.

Geradezu abstossend wird diese moralische Arroganz allerdings im Umgang mit der Serie «Derrick» selbst – man sollte sie dringend wieder ins Programm holen.