Ein abgetrennter Kopf ist schwerer, als man glaubt. Dieser Gedanke kommt dem Machtmenschen Thomas Cromwell nach der Hinrichtung der englischen Königin Anne Boleyn, als ihre Betreuerinnen das Haupt vom Boden aufheben. «Der kleine Körper liegt auf dem Schafott, so wie er gestürzt ist: bäuchlings, die Hände ausgestreckt, schwimmt er in einer Lache aus flüssig-finsterem Purpur, das Blut sickert zwischen die Bretter.» Das Drama spielte sich im Mai 1536 im Londoner Tower ab. Es könnte sich zumindest so ereignet haben, wie es die Schriftstellerin Hilary Mantel beschreibt.
Die Hinrichtung Boleyns wegen angeblicher Untreue in ihrer Ehe mit König Heinrich VIII. bildet den Auftakt zum letzten Band von Mantels Trilogie unter dem Titel «Spiegel und Licht». Mit einer raffinierten Mischung aus Fiktion und Fakten lässt die 68-jährige Mantel die Dynastie der Tudors aufleben, jener Herrscherfamilie, die das politische Leben des englischen Königreichs während fast 200 Jahren bis ins frühe 17. Jahrhundert prägte.
Im Mittelpunkt steht die Schicksalsgeschichte von Thomas Cromwell (1485–1540), dem gesellschaftlichen Aufsteiger, der es als Sohn eines Schmieds in die höchsten Staatsämter schaffte und zum engsten Vertrauten des Renaissance-Potentaten Heinrich VIII. wurde. Cromwell verlor schliesslich gleichenorts wie Anne Boleyn seinen Kopf, womit einer kruden Gerechtigkeit Genüge getan war.
Hilary Mantel hat sich für dieses dreiteilige Werk von fast 2500 Seiten in die Welt der Tudors zurückversetzt, um ihre Leserschaft in diese Vergangenheit mit hineinzuziehen. Wie eine Regisseurin führt sie ihre Figuren durch die Geschehnisse, erfindet Dialoge und stellt sich immer wieder vor, was in den Köpfen dieser historisch verbürgten Gestalten vorgegangen sein muss. Sie setzt dies in eine anschauliche Sprache um, die bei der Leserschaft ebenso ankommt wie bei der Literaturkritik.
Mantel ist eine der beneidenswerten Autorinnen, die fast allerorts Applaus geniessen: «Mantels Stil ist packend; sie verbindet Grosszügigkeit mit Präzision.» Diese Anerkennung ist umso bemerkenswerter, als andere Autoren historischer Romane wie Conn Iggulden, Philippa Gregory oder Bernard Cornwell im Feuilleton einen schwereren Stand haben. Mantel erhielt für die ersten beiden Bände ihrer Cromwell-Trilogie jeweils den Booker-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Grossbritanniens; die Queen adelte sie mit dem Order of the British Empire, einem OBE.
Der Staatsmann Thomas Cromwell war ein skrupelloser Strippenzieher, dem ein Menschenleben im Einzelfall nichts bedeutete, wie die von ihm inszenierte Hinrichtung Anne Boleyns belegt. Im Gegensatz zum gängigen Geschichtsverständnis sieht ihn Mantel indes auch als einen verletzlichen Menschen, der sich und den Seinen in einer nach heutigem Verständnis rechtlosen Zeit das Überleben sichern wollte – und scheiterte.
Seine Feinfühligkeit tritt aus Mantels Sicht etwa dann deutlich zutage, wenn er auf der Höhe seiner Macht die politischen Intrigenspiele besser als andere beherrscht – und gegenüber Gegnern Milde walten lässt. Demnach endete Cromwell nicht vor dem Scharfrichter, weil ihm sein politischer Erfolg in den Kopf gestiegen war, dass er ihn verlieren musste.
Laut Mantel war Cromwell vielmehr Opfer der «strukturellen Verhältnisse», wie sie dem «History Magazine» der BBC in einem Interview sagte. Er verletzte die aus damaliger Sicht göttliche Regel, dass jeder Mensch in der gesellschaftlichen Klasse zu leben hatte, die das Schicksal ihm vorgegeben hatte. Ehrgeiz war aus Sicht der Herrschenden des Teufels.
Hilary Mantel wuchs in einer irisch-stämmigen Mittelstandsfamilie im Norden Grossbritanniens auf. Sie studierte Rechtswissenschaft an der London School of Economics. 1972 heiratete sie den Geologen Gerald McEwen, mit dem sie in Botswana und in Saudi-Arabien lebte. Während einiger Jahre arbeitete sie als Filmkritikerin des Magazins The Spectator.
Diese Tätigkeit sollte ihre schriftstellerische Arbeit prägen. Hilary Mantels Romane lesen sich streckenweise wie Filmszenen, in denen die Protagonisten ihre von der Drehbuchschreiberin vorgezeichneten Rollen spielen – stets mit raffinierten Dialogen versehen. Hilary Mantel arbeitet an den Büchern für die Kino- und TV-Adaptionen ihrer Werke intensiv mit.
Zwar liest sich Mantels Lebenslauf geradlinig. Er war es aber nicht, zumal sie seit ihrer Kindheit unter einer fragilen Gesundheit leidet. Wie viele Menschen, die sich als Erwachsene durch aussergewöhnliche Kreativität auszeichnen, litt sie in ihrer Kindheit.
Sie beschreibt in ihrer Autobiografie «Von Geist und Geistern», wie ihre Mutter ihren Liebhaber in das elterliche Haus brachte, als Hilary, die noch zwei jüngere Brüder hatte, sieben Jahre alt war. Es entspann sich ein vierjähriges häusliches Drama, das erst endete, als sich der leibliche Vater auf Nimmerwiedersehen von der Familie verabschiedete. Die Geschichte könnte fast aus dem Hausstand von König Heinrich VIII. stammen, der es immerhin auf sechs Ehefrauen brachte, von denen er neben Anne Boleyn eine weitere wegen Untreue hinrichten liess.
Die meisten Historiker anerkennen, dass der fiktionale Zugang zur Vergangenheit so legitim ist wie der wissenschaftlich-dokumentarische. Doch einzelne wie der renommierte Tudor-Experte David Starkey halten solche Romane für eine «bewusste Verfälschung», weil sie historische Ereignisse populär zurechtbiegen.
Mantel will ihrer Leserschaft indes mehr vermitteln als einen weiteren Lebenslauf von Thomas Cromwell, der Biografen seit dem 19. Jahrhundert faszinierte: «Ich suche in Texten oder historischen Bildern nach erhellenden Kleinigkeiten, die bisher als unerheblich übergangen wurden, um ein neues Bild von den Verhältnissen zeichnen zu können.»
Ihre Werkliste ist lang. Ausserhalb von Grossbritannien fand vor allem ihr Roman «Brüder» über die Französische Revolution Beachtung. Auch ein Erzählband mit einer Geschichte über die fiktive Ermordung der britischen Premierministerin Margaret Thatcher gab zu reden, weil die Politikerin tatsächlich jahrelang im Visier der irischen Terrororganisation IRA gestanden hatte und bei einem Anschlag 1984 beinahe ihr Leben verlor.
Hilary Mantel ist mit ihrer Cromwell-Trilogie zu einem literarischen Superstar geworden und in den Medien zeitweise omnipräsent. Dazu gehört ein wohldosiertes Marketing. So erschien der Roman «Spiegel und Licht» in zahlreichen Sprachen gleichzeitig, was zu einer weltweiten Beachtung führte. Der Titel nimmt übrigens direkten Bezug auf ein angebliches Zitat von Cromwell gegenüber Heinrich VIII.: «Sie sind der Spiegel und das Licht aller anderen Könige.»
Diese Schmeichelei änderte nichts an Cromwells Fall. Sein Verhängnis nahm mit der von ihm arrangierten vierten Heirat Heinrichs VIII. seinen Lauf. Der Monarch sollte die deutsche Adlige Anna von Kleve heiraten, damit England mit den protestantischen Fürsten Deutschlands eine Allianz gegen Frankreich und Rom schmieden konnte.
Cromwell schickte den Schweizer Maler Hans Holbein zu der Auserwählten, um sie möglichst vorteilhaft zu porträtieren. Das Bild sollte die Begierde des Königs auf die junge Frau wecken. Doch Menschen sind keine Schachfiguren, die sich beliebig herumschieben lassen, wie Hilary Mantel anschaulich beschreibt.
Die intime Begegnung zwischen Heinrich VIII. und Anna von Kleve verlief ernüchternd: «Von diesem Moment an war er ohne Neugier auf das, was er unter ihren Kleidern finden würde: nur Zitzen und ihren Schlitz, Hautsäcke und Haare.» Historisch ungeklärt bleibt indes die Frage, ob das Zipfelchen des feisten Heinrich das deutsche Adelsfräulein erotisch elektrisierte. Fehlende Lust hin oder her, Cromwells Fall war eingeläutet.
Der Roman «Spiegel und Licht» beginnt mit einer Hinrichtung und endet mit derjenigen von Cromwell. «Sein Fuss steht auf der Treppe zum Schafott. Sein Geist ist ruhig, doch sein Körper folgt eigenen Regeln, und dazu gehört dieses Zittern . . . er senkt den Körper, um zu sterben.» Auch sein abgetrennter Kopf ist schwerer, als man denkt.