Als die CO2-Werte in der Atmosphäre im Mai einen neuen Rekordstand erreichten, waren die Reaktionen aus gewissen Kreisen so plump wie voraussehbar: Da sind wir alle zu Hause, doch selbst der horrend teure Lockdown hilft offenbar dem Klima nicht. Wir können uns Klimaschutz folglich nicht leisten. Das gleiche Argument von zu hohen Kosten war denn auch letzte Woche in der Debatte im Nationalrat bei der Revision des CO2-Gesetzes prominent zu hören. Und es wird mit Sicherheit künftig wiederholt.
Doch der Reihe nach. CO2 akkumuliert sich in der Atmosphäre, und ein grosser Teil bleibt über Jahrhunderte dort. Eine geschätzt 10-prozentige Reduktion des Ausstosses über ein paar Monate lässt damit die Gesamtmenge einfach etwas langsamer ansteigen. Der übergewichtige Alkoholiker wird weder kurzfristig nüchtern noch langfristig schlank, wenn er von täglich zehn Flaschen Bier auf neun reduziert. Daher das Ziel der vollständigen Dekarbonisierung: Erst wenn wir den Treibhausgas-Ausstoss weltweit auf netto null reduzieren, können wir den Klimawandel stabilisieren. Emissionen, die nicht oder nur mit hohen Kosten zu vermeiden sind, müssen an anderen Orten durch CO2-Abscheidung wieder künstlich aus der Atmosphäre entfernt werden.
Ein Lockdown ist keine Dekarbonisierung; er ist temporär, mit schlimmen Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft. Es geht beim Klimaschutz nicht darum, CO2 zu reduzieren, indem man die Wirtschaft abwürgt. Die Emissionen werden mit der sogenannten Kaya-Identität durch vier Faktoren bestimmt: die Anzahl Menschen, die Wertschöpfung pro Kopf, die Energieeffizienz, also die Menge Energie, um einen Franken Sozialprodukt zu erzielen, und schliesslich die CO2-Intensität, lies: die Menge CO2, die wir pro Kilowattstunde Energie ausstossen.
Die ersten beiden Kenngrössen werden beziehungsweise sollen weiter steigen. Der Energieeffizienz sind physikalische Grenzen gesetzt. Damit bleibt die CO2-Intensität als wichtigster Hebel übrig. Wenn wir die Energie CO2-frei herstellen, dann ist Klimaschutz kein Killer für die Wirtschaft. Von Fotovoltaik, Wind, Biogas, Fernwärme mit Holz, Geothermie bis zu synthetischen Treibstoffen reicht das Potenzial für die Dekarbonisierung. Die Umstellung in der Praxis passiert aber kaum spontan, sie erfordert klare Rahmenbedingungen und einheitliche Regeln, welche die Politik vorgeben muss.
Klimaschutz kostet – und der Umbau des Energiesystems ebenso. Aber einige der herumgereichten Zahlen und Argumente sind so abenteuerlich wie irreführend. Erstens wird von den Lenkungsabgaben der grösste Teil an die Bevölkerung zurückerstattet. Rund 90 Prozent der Bevölkerung werden zum Beispiel von der Flugticketabgabe mehr Geld zurückerhalten, als sie zahlen, und oft sind dies Personen aus ländlichen Gebieten mit kleineren Einkommen.
Zweitens wird der langfristige volkswirtschaftliche Nutzen von den Gegnern oft ausgeblendet: Investitionen stärken den Standort Schweiz, reduzieren die Abhängigkeiten vom Ausland, verbessern die Luftqualität und schaffen Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Und drittens und vielleicht am wichtigsten: Nichts zu machen, kostet mehr. Die gesalzene Rechnung wird uns und den nachfolgenden Generationen dann in ein paar Jahrzehnten präsentiert. Statt einer Abgabe auf Benzin sind es dann einfach Steuergelder, die wir alle bezahlen, um die Anpassung zu finanzieren und Schäden zu reparieren.
Wissenschaftliche Studien haben klar gezeigt, dass die Kosten eines ungebremsten Klimawandels diejenigen einer CO2-Reduktion klar übersteigen. Schäden in der Landwirtschaft und im Tourismus, extreme Wetterereignisse, negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Einbussen in der Arbeitsproduktivität kommen die Menschheit teurer zu stehen als gezielte Investitionen in die Dekarbonisierung. Natürlich ist es für das einzelne Individuum oder unser kleines Land verlockend, als Trittbrettfahrer die Aufgabe den anderen zu überlassen, solange es uns in der kleinen Schweiz in einer gemässigten Klimazone einigermassen gut geht. Aber diese kurzsichtige Haltung ist so unethisch wie naiv: Geht es dem Ausland schlecht, dann wird das auch uns finanziell treffen. Wir sind mindestens so stark vom Klimawandel im Ausland wie von demjenigen im Inland betroffen. Es ist also für alle günstiger, den Klimawandel auf unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, als abzuwarten und später für alle Schäden zu bezahlen.
Parallelen zur Corona-Krise sind offensichtlich. Wir haben es in beiden Fällen mit Bedrohungen zu tun, die zuerst schwer fassbar und mit Unsicherheiten behaftet sind und bei denen man auf der Basis von Szenarien entscheiden muss. In beiden Fällen lohnt es sich, die Fakten ernst zu nehmen und frühzeitig zu handeln. Die Auswirkungen kommen später, und wer zu lange wartet, hat kaum mehr Handlungsspielraum. Sowohl Corona wie das Klima betreffen ein öffentliches Gut, das wir nur gemeinsam schützen können – im ersten Fall die Gesundheit, im zweiten den Planeten.
Nebst Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch Unterschiede. Die Auswirkungen des Klimawandels werden über Jahrhunderte bestehen bleiben, und die Lösungen erfordern nicht einen temporären Lockdown, sondern einen langfristigen Umbau von Infrastruktur, Wirtschaft, Mobilität und wohl auch des gesellschaftlichen Wertesystems. Bei der Pandemie ist der Wissensstand nicht annähernd so gut wie bei dem seit Jahrzehnten erforschten Klimawandel. Aber von links bis rechts war man sich zumindest am Anfang über Massnahme und Ziel einig: Kontakte vermeiden, um Leben zu retten. Die Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels hingegen sind geprägt von Werturteilen: Wie wichtig ist uns eine Tierart? Ist es unsere Verantwortung, sicherzustellen, dass gewisse tropische Gebiete noch bewohnbar sind? Und wie steht es um die Verantwortung, die Existenzgrundlagen in den Alpenregionen langfristig zu sichern?
Aus den CO2-Werten lässt sich nicht automatisch ableiten, mit welchen Massnahmen die Menschheit reagieren soll. Dies ist Sache einer demokratisch geführten Diskussion, und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass unterschiedlichste Interessen bei der Suche nach konkreten Lösungen zu berücksichtigen sind. Aber das ist kein Freipass dafür, Fakten zu leugnen oder Modelle und Szenarien als unwissenschaftlich abzutun. Als Wissenschaftler können und wollen wir der Politik die Entscheidungen nicht abnehmen. Aber wir können dazu beitragen, dass die Diskussion auf den bestmöglichen Informationen basiert. Und ab und zu darauf hinweisen, dass eine angeblich einfache Lösung oder eine alternativlose Massnahme vielschichtiger sind, als es auf den ersten Blick scheint.
Die Corona-Pandemie hat den Umgang mit Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit nicht einfacher gemacht. Nationale Interessen und der kurzfristige Fokus auf die Wirtschaft und die Kosten dominieren die Diskussion. Aber Corona bietet auch Chancen. Statt Milliarden blind zu verteilen und in die nächste Krise zu schlittern, können wir unmittelbar in Infrastruktur für saubere, CO2-freie Mobilität und CO2-freies Wohnen investieren, die uns auch beim Klimaschutz hilft.
Vor allem aber hat Corona uns die extreme Verwundbarkeit einer ökonomisch globalisierten Welt vor Augen geführt und die Konsequenzen von sehr unterschiedlichen Reaktionen auf die Krise offenbart. Laisser-faire-Politik, mangelnde Vorbereitung und Ignoranz können tödlich sein. Wer die Fakten ernst nimmt, frühzeitig entscheidet und solidarisch handelt, steht am Schluss besser da. Länder, die das verpasst haben, das Problem kleingeredet und die Massnahmen verzögert haben, zahlen einen hohen Preis.
Im Gegensatz zu Corona können wir beim Klimawandel nicht auf einen Impfstoff hoffen, um das Problem zu lösen. Klimaschutz kostet, aber blind weiterwursteln, ohne Klimaschutz, kostet mehr. Die entscheidende Frage ist damit nicht, ob wir uns Klimaschutz leisten können oder wollen, sondern, mit welcher Strategie wir am Schluss finanziell und gesellschaftlich am besten dastehen werden. Clever zu handeln, ist nicht nur eine Frage der Ethik, sondern auch der ökonomischen Vernunft.
Reto Knutti, Klimatologe, ist Professor für Klimaphysik und Delegierter für Nachhaltigkeit an der ETH Zürich und war einer der Leitautoren beim Vierten und Fünften Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC.