Die Strasse windet sich durch Wälder und Hügel, dazwischen ein paar Häuser, hingeworfen wie Würfel auf einen Casinotisch. Zwischen einem alten Bauernhof und der dazugehörigen Scheune geht es ein paar Meter hinauf, dann stehen wir vor der «Maison Douane Suisse». Das Zollhaus an der schweizerisch-französischen Grenze in der schönsten Jura-Idylle wurde 1895 vom Bund gebaut. Heute ist es Rückzugsort, Spezialitätenarchiv und Küche von Martin Jenni.

Der 60-jährige Basler ist der wohl beste Beizenkenner der Schweiz, seine Guides mit dem Titel «Aufgegabelt» (AT-Verlag) sind kleine Schatzkarten mit sorgfältig zusammen-getragenen Hinweisen zu Produzenten und Gaststätten, die sich dem einfachen, handwerklich hochstehenden Genuss widmen – einkehren, einkaufen und einschlafen heisst sein Programm. Jenni reist, entdeckt, probiert. Dabei hat er einen untrüglichen Instinkt dafür entwickelt, wo es schmecken wird.

«Wenn ich in eine neue Beiz einkehre, bestelle ich oft einen Wurstsalat. Wenn dieser Klassiker gut gemacht ist, sorgfältig angerichtet wird und ohne industrielle Sauce auskommt, dann ist der Rest in der Regel auch gut», erklärt der Autor eine seiner Grundregeln. Auch in Metzgereien spüre er schnell, ob das Angebot seinen Vorstellungen entspreche: Wer sind die Leute hinter der Kühlvitrine? Und vor allem: Steht bei den Pasteten das Schild «fait maison», signalisiert das, dass hier noch Metzger mit Leidenschaft am Werk sind und nicht nur Fleischverkäufer.

Haus am Waldrand

Martin Jenni lebt in der perfekten Naturidylle, ein Specht hämmert im Wald, ein Milan ruft über dem Hügel gegenüber, Grillen zirpen und Bienen summen. «Natürlich ist das manchmal etwas einsam, aber auch sehr romantisch», sagt der Genussmensch. In der kleinen Küche bereitet Jenni auch mal acht Gänge für Gäste zu. Seine Gerichte leben von den mit viel Zeitaufwand und Sorgfalt ausgewählten Zutaten und seinem guten Sinn für das Handwerk, das darin besteht, genau nur so viel mit guten Produkten zu machen, um sie optimal zur Geltung zu bringen.

Hier, im jurassischen Nirgendwo, will Kochen wohlgeplant sein. Einfach noch schnell bei Migros oder Coop eine Limette oder etwas Koriander besorgen, weil das beim Einkauf halt vergessen ging, ist unmöglich. Nicht, dass Martin Jenni oft bei Migros oder Coop einkaufen würde, aber Porrentruy ist eine halbe Autostunde entfernt. Roche-d’Or heisst der Ort, an dem Jenni nun seit fast zehn Jahren zu Hause ist. Die Gemeinde erreicht man vom Zollhaus aus über einen Feld-Wald-und-Wiesenweg wie aus dem Bilderbuch, eine asphaltierte Strasse gibt es nicht. Jenni zeigt auf die Kuhweide, die sanft zu einer Anhöhe ansteigt. Dort oben, drei Kilometer weiter westlich, befinde sich der Ort, da habe er aber kaum etwas zu tun, eine Post-Filiale gebe es ohnehin nicht.

Die spezielle Immobilie im Lebensraum von Wildhasen, Füchsen, Wildschweinen und Rehen hat Martin Jenni – natürlich – in einer Beiz entdeckt. Besser gesagt, er hat den damaligen Besitzer kennengelernt, der ihm und seiner ehemaligen Partnerin dann schliesslich das Haus am Waldrand verkauft hat. Von hier aus plant der gelernte typografische Gestalter seine Streifzüge durch den Jura, Frankreich, Deutschland, das nördliche Italien, die Schweiz und diverse Regionen in England und Schottland.

Entdeckungen im Militärdienst

«Ich bin Sammler, aber kein Jäger. Aschenbechern, Suppenschüsseln, Kerzenständern und Gläsern galt einst meine Sammelleidenschaft», beschreibt sich Martin Jenni selbst. Pilze kaufe er lieber auf dem Markt bei einem vertrauenswürdigen Händler, als dass er selbst gebückt durchs Unterholz streife. Die ersten versteckten Genussorte der Schweiz lernte der Autor während seiner Militärzeit kennen. Während der Ausbildung zum Leutnant kam der ehemalige Übermittlungsoffizier durchs Goms ins Binntal, marschierte durchs Freiburger Hinterland, entdeckte die Waadt und lernte Bauern und Beizer kennen. Auf einem 60-Kilometer-Marsch, der durch Romainmôtier im waadtländischen Jura führte, war er von dem malerischen Ort fasziniert, kam zurück und berichtete später Bekannten von den ausgezeichneten Gaststuben, die er in dieser für ihn unbekannten Region gefunden hatte. So wurde aus dem Soldaten Jenni bald eine gefragte Spürnase für gute Beizen.

Szenen- und Jahreswechsel: Martin Jenni steht in seiner schmucken kleinen Küche, die in jedem Rosamunde-Pilcher-Film eine passende Kulisse für einen romantischen Dialog hergeben würde. Routiniert schneidet er Pastinaken, mixt geräucherte Forellenfilets mit Frischkäse, Gewürzen, Limettensaft und Olivenöl. Ein paar Sekunden später schält er eine handgemachte Blutwurst, die er kurz darauf panieren und in gesalzener Butter goldbraun braten wird. Jeder Handgriff sitzt, routiniert geht es voran. Jennis Küche mag rustikal sein, sie lebt dabei von den liebevoll zusammengesuchten Zutaten und der sinnvollen Weiterverarbeitung, für die sich der leidenschaftliche Koch entschieden hat.

Monsieurs Cailles Blutwurst

Die Blutwurst zum Beispiel, die Jenni auf einer seiner Reisen entdeckt hat, produziert Monsieur Francis Caille von der gleichnamigen Boucherie in Void-Vacon im Département Meuse in Frankreich. Die Wurst ist nicht kurz und dick wie die meisten Exemplare dieser Gattung, sondern hat etwa den Durchmesser einer Bratwurst und ist gerollt wie eine Grillschnecke. «Die Füllung ist nicht ganz so fein wie bei Schweizer Würsten, aber sie ist hervorragend gewürzt», sagt Jenni. Er wälzt etwa acht Zentimeter lange Stücke Wurst in Weissmehl der Altbachmühle aus Wittnau im Fricktal. Dann zieht er sie durchs leicht aufgeschlagene Ei und schliesslich durchs Paniermehl, das er in der Holzofenbäckerei von Thérèse Scheurer aus Boécourt kauft.

Inspirieren lässt sich Martin Jenni von Kochbüchern oder Restaurantbesuchen. «Rezepte koche ich keine nach», sagt er. Wenn er etwas esse, was ihm schmecke, breche er es zu Hause runter auf seine Möglichkeiten. Im Wohnzimmer steht neben den Chesterfield-Sesseln mit viel Patina ein rundes, antikes Bücherregal mit Gesamtausgaben von Goethe und Rilke, das kulinarischste Buch hier ist wohl «Nicht schon wieder Essen!» (Detebe). «Im ersten Stock hat es mehr Kochbücher», ruft Martin Jenni vom Herd herüber: von Nigel Slater «Das Küchentagebuch», «Das kulinarische Erbe der Alpen» von Dominik Flammer oder Anna Pearsons «Zu Tisch» stehen im Obergeschoss friedlich neben Umberto Eco und Elias Canetti. Küche und Kultur sind Hauptzutaten in Martin Jennis Leben. «Ich liebe es, beseelte Orte zu entdecken, die mir kulinarische und geistige Nahrung geben», beschreibt er seine Leidenschaft.

Brot und Speck, Foie gras, Langustinen

Zum Apéritif öffnet Jenni einen spritzigen «Bubbly!» der französischen Winzerin Nathalie Gaubicher – eine kleine Entdeckung, die er kürzlich gemacht hat. Der in der Flasche gegärte Schaumwein aus Cinsault-Trauben ist leicht, fein, hat eine schöne Restsüsse und passt wunderbar zur Landidylle. Dann gibt es Forellenmousse und Erbsenpüree mit Pfefferminze sowie gekochte Kartoffeln mit einem fruchtigen toskanischen Olivenöl, eine Kombination, die Martin Jenni gern seinen Gästen serviert und die er immer mal wieder verändert: Makrele oder Felchen statt Forelle, Sellerie oder Fenchel statt Erbsen.

«Zur Erinnerung an das Essen meiner Kindheit gehören Brot, Speck und Apfelwein, aber auch Foie gras, Schnecken und Langustinen», erzählt Jenni. Für die schlichten Genüsse seien seine Grossmütter und Grosstanten zuständig gewesen, die luxuriösere kulinarische Lebensart habe er seinem Stiefvater zu verdanken. «Er war Zahnarzt und hat mich als Fünfjährigen schon zu Ausfahrten ins Elsass, in den Jura oder ins Markgräflerland mitgenommen. Hin zu Land und Leuten, zu Kirchen, Denkmälern, Metzgereien, Käsereien und Beizen.» Bis heute ist Martin Jenni nicht nur ein Freund der Wirtshauskultur, sondern auch der Haute Cuisine. «Ich bevorzuge aber Köche, die noch selber kochen wie Werner Tobler, Alex Rufibach, Arno Abächerli oder Franz Wiget», sagt er.

Als Nächstes serviert Jenni die zuvor panierte Blutwurst, angebraten in Salzbutter, auf gedünsteten Pastinaken mit Apfel, rosa Pfeffer und etwas Chili. Das passt gut zu der leichten Süsse der Wurst, die unter anderem mit Zwiebeln und Senf gewürzt ist, und zu einem weissen Trebium von Antonelli aus Umbrien. In seinem Weinkeller lagern rund 160 Flaschen Wein, der Bestand muss allerdings laufend erneuert werden. «Ich habe einen trinkfreudigen Freundeskreis», erzählt der gesellige Einsiedler lachend.

Zu den Grundsätzen seiner kulinarischen Frühbildung habe gehört, dass er nie gezwungen worden sei, etwas zu essen, erzählt Jenni. «Aber ich musste immer einen Teelöffel probieren. Das hat mich zu einem glücklichen Allesesser gemacht.» Bei einem Auftritt in der SRF-Sendung «Eusi Landchuchi» im Jahr 2016 bereitete Jenni ein bäuerlich-jurassisches Gericht mit Schnecken, Kutteln und Morcheln zu, das manche der Testesser herausforderte. Immerhin gab es 8 von 10 Punkten.

Einmal pro Woche Fleisch

Jennis wahre kulinarische Leidenschaft sind Würste von guten Metzgern. «Ein T-Bone-Steak hingegen ist mir zu viel Fleisch», sagt er. Auch wenn man es ihm nicht ansehe, seine Küche sei leicht, Fleisch kaufe er gerne bei Eva Schöni, der Biobäuerin und Nachbarin der Ferme La Vaux in Roche-d’Or oder bei Cäsar Bürgi, dem Bauer und Metzger der Hofmetzgerei Silberdistel in Holderbank, wo alle Tiere sich im Freien aufhalten können. «Wenn das jemandem zu teuer ist, antworte ich: Dann gibt es halt nur einmal pro Woche Fleisch. Wir sollten uns schon bewusst sein, dass wir Lebewesen essen», findet Jenni und wirkt dabei komplett entspannt.

Lebensmittelfundamentalismus ist dem Genussmenschen ohnehin fremd, er sucht einfach gern nach dem Guten und Wahren. Ein Wocheneinkauf dauert bei Jenni rund vier Stunden. Drei für den Einkauf, eine für den Apéritif. Das Brot gibt es von der Holzofenbäckerei, die Terrine vom Lieblings-Charcutier, den Comté von der einen Käserei und den Mont d’Or von einer anderen. Es ist eine lustvolle Art kulinarischen Dandytums, dem Martin Jenni viel seiner Zeit widmet.

Und bald wird er seine Sammel- und Kochkunst einem grösseren Publikum zugänglich machen. Das einsame Zollhaus wird vermietet, Jenni zieht im November nach Rodersdorf – an eine andere schweizerisch-französische Grenze. Diesmal nicht im Jura, sondern im Elsass. In einem alten Haus aus dem 18. Jahrhundert, das vor fünfzig Jahren mal ein Wirtshaus war, plant der umtriebige Autor eine Art kulinarische Vereinigung, wo er künftig Tafelrunden im privaten Rahmen ausrichten, wo er leben und schreiben will.

Wenn er etwas esse, was ihm schmecke, breche er es zu Hause runter auf seine Möglichkeiten.

 

Martin Jenni: Aufgegabelt. AT. 328 S., Fr. 21.90