Vor 27 Jahren», also 1990, «glaubten wir, dass Europa unsere Zukunft ist», sagte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán am Wochenende. «Aber jetzt sind wir es, die Europas Zukunft sind.» Das ist nicht nur dahergesagt. Orbán glaubt wirklich, dass Europa Gefahr läuft, kulturellen Selbstmord per Geburtenrückgang und Einwanderung zu begehen. Und dass es die Mitteleuropäer sind, die den Kontinent davor bewahren können, dank ihrer harten Haltung in der Migrationspolitik.
Orbán ist nicht der Einzige, der das so sieht. US-Präsident Donald Trump sagte unlängst Ähnliches bei einem Besuch in Warschau, und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu äusserte Vergleichbares in Budapest. Orbán will Mitteleuropa als das wahre, bessere Europa vermarkten, Trump und Netanjahu bekräftigen ihn dabei. Dabei unterlief dem Israeli das Missgeschick, dass ein Mikrofon offen blieb, als er im Gespräch mit den in Budapest versammelten Regierungschefs der Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien) vom Leder zog: Die EU-Politik gegenüber Israel sei «absolut verrückt», weil die EU die Zusammenarbeit mit Israel «auf jedem Gebiet an politische Bedingungen» knüpfe. Die häufige Kritik in der EU an der Politik Israels nannte er – diesmal ganz offiziell, auf einer Pressekonferenz mit Orbán – einen «neuen Antisemitismus», gegen den die Mitteleuropäer die beste Verteidigung böten.
Zugleich lud er die Visegráder ein, nächstes Jahr ein Gipfeltreffen in Israel abzuhalten. Diese nahmen das gerne an.
Die USA, Israel und Mitteleuropa gegen das politisch korrekte West- und Nordeuropa: Da scheinen sich neue Kraftlinien zu entwickeln. Was die Begriffe «Europa» und «europäisch» bedeuten, das beantwortet Orbán sehr einfach: Europa sei der Kontinent der Europäer. «Die Frage der kommenden Jahrzehnte ist, ob Europa weiterhin Europäern gehören wird», sagte Orbán am Wochenende. «Ob Ungarn das Land der Magyaren bleiben wird. Ob Deutschland das Land der Deutschen bleiben wird, ob Frankreich das Land der Franzosen bleiben wird, ob Italien ein Land von Italienern bleiben wird.»
Ungarn, so sagte er, spiele zusammen mit den anderen Ländern der Region, die die muslimische Einwanderung ablehnen, eine zentrale Rolle beim Kampf gegen eine «Entchristianisierung Europas». Das Zusammenwachsen der Visegrád-Gruppe in dieser Frage sei «eine grosse Sache».
Eigentlich hätte man erwarten dürfen, von ihm einige Worte über die Innenpolitik zu hören. Im nächsten Jahr sind Wahlen. Aber Ungarns Opposition ist so kraftlos, dass Orbán sagte, der wahre Gegner sei nicht die Opposition, sondern die «unverantwortlichen Eurokraten in Brüssel, die linksliberalen Netzwerke des US-Milliardärs George Soros und deren Komplizen, die Medien». Gemeinsam bildeten sie eine neue «Inquisition» mit einer Vorliebe für Folter und fromme Sprüche, um Häretiker zu disziplinieren. Gegenwärtig sei Polen ihr auserkorenes Opfer, Ungarn aber werde Polen nicht im Stich lassen.
Damit war Polens umstrittene Justizreform gemeint, die Kritikern zufolge der Regierung zu viel Einfluss auf das Justizwesen gäbe. Staatspräsident Andrzej Duda legte am Montag sein Veto ein gegen das Gesetz. Er unterstrich zugleich aber die Reformbedürftigkeit des Justizsystems.
«Nach der Wende gab die Solidarnosc-Regierung den Richtern volle Autonomie», erklärt die konservative Publizistin Aleksandra Rybinska das Problem. So sollte verhindert werden, dass die Kommunisten wieder Einfluss gewännen im Justizwesen. Die Richter hätten sich mit der Zeit aber zur unantastbaren «Kaste» entwickelt. «Noch nie haben sie einen korrupten Politiker verurteilt oder gar einen korrupten Richter», sagt sie. Eine Reform sei dringend nötig.
Die EU erwägt nun Sanktionen gegen Polen. Das wäre dann ein Showdown zwischen West- und Mitteleuropa, «wahres Europa» gegen «korrektes Europa». Denn die Mitteleuropäer scheinen entschlossen, Polen zu schützen.