Letzte Woche reagierte das Gericht für Justizvollzug des Kantons Genf auf einen Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Am 28. September verfügte es die Freilassung des seit über elf Jahren inhaftierten Erwin Sperisen. Der EGMR hatte bereits im Juni entschieden, dass der ehemalige politische Chef der Polizei von Guatemala in Genf kein faires Verfahren erhalten hatte. Das Strassburger Verdikt ist mittlerweile rechtskräftig, Sperisens Verurteilung wegen Beihilfe zu Mord mithin ungültig. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Doch bereits nach einem Tag, am 29. September, nahm das Genfer Vollzugsgericht seinen Freilassungsentscheid zurück. Staatsanwalt Yves Bertossa hatte Einspruch eingelegt. Und bis das Genfer Strafgericht darüber entscheidet, bleibt Sperisen in Haft. Begründung: Fluchtgefahr. Auf die hypothetische Fangfrage, ob er künftig in der Schweiz leben möchte, hatte Sperisen nämlich geantwortet: «Idealerweise nicht, nach all dem Unrecht, das mir hier widerfahren ist.» Er hätte besser geschwiegen oder etwas vorgeheuchelt.

Jäger werden zu Gejagten

Die nachgerade sadistisch anmutende Kehrtwende ist typisch für ein kafkaeskes Verfahren, das von Anfang an auf Wortklaubereien und Zirkelschlüsse baute. Die Vorwürfe gegen Sperisen – ursprünglich soll er eigenhändig Häftlinge erschossen, am Ende nur noch einen Kommandanten gedeckt haben – änderten sich ständig. Die Unterstellung einer Fluchtgefahr ist schon deshalb absurd, weil Sperisen im nächsten Februar seine Strafe verbüsst hätte. Im halboffenen Vollzug wurden ihm schon ein Dutzend, teilweise mehrtägige Freigänge gewährt. Hätte er flüchten wollen, hätte er das längst getan.

Nicht nur seine Familie hält Sperisen in der Schweiz zurück. Bei einer allfälligen Neuauflage des Hauptverfahrens hat er nichts zu befürchten. Eine Verschärfung (reformatio in peius) wäre unzulässig. Wird seine Unschuld aber bestätigt, muss ihm die Schweiz eine Entschädigung in Millionenhöhe bezahlen. Etwas anderes als ein Freispruch ist indes schwer vorstellbar, wie Rechtsprofessor Daniel Jositsch in der Sonntagszeitung erklärte.

Nun schaltet sich die Regierung von Guatemala ein. In zwei diplomatischen Noten fordert sie den Bundesrat wie auch den Europarat auf, sich für eine korrekte Umsetzung des Strassburger Verdiktes einzusetzen. Staatsanwalt Bertossa verstieg sich derweil in die Behauptung, der EGMR-Entscheid sei falsch und für die Schweiz nicht verbindlich. Doch das Bundesamt für Justiz liess die Frist für eine Anfechtung ungenutzt verstreichen, was einer Anerkennung gleichkommt.

Das wahre Motiv für Bertossas Kampf gegen Sperisens Freilassung ist offensichtlich. Mit einer überlangen Untersuchungshaft von fünf Jahren setzte sich die Genfer Justiz selbst unter Erfolgszwang. Der Strassburger Entscheid macht die Jäger nun definitiv zu Gejagten. Die Freilassung von Sperisen schafft ein Präjudiz, das gegen einen Schuldspruch in einem möglichen neuen Prozess spricht. Dies, zumal alle bisher in den unfairen Prozess involvierten Richter wegen Befangenheit in den Ausstand treten müssten.