Was gibt’s Neues bei Assange? Diese Frage bekam ich in den letzten Jahren häufig gestellt. Häufig von Journalisten. Immer wieder habe ich über das Schicksal des Wikileaks-Gründers berichtet, der für die Veröffentlichung von Kriegsverbrechen der USA und zahlreiche wahrheitsgetreue Enthüllungen, die den Mächtigen gefährlich wurden, seit nunmehr fast fünf Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh sitzt und auf seine Auslieferung in die USA wartet.

«Nichts Neues», ist keine gute Antwort, wenn man andere Journalisten dazu animieren will, ebenfalls zu berichten (oder mal zu recherchieren). Denn Journalismus liebt Ereignisse, also Neuigkeiten. Und hasst Zustände. Denn Zustände sind bekannt, also langweilig. Doch dieser Zustand ist ein Dauerskandal, und er wird nicht kleiner, sondern immer grösser, je länger er andauert. Der Fall Assange ist ein stetig anschwellender Dauerskandalballon. Mal wieder steht es für Assange Spitz auf Knopf: ein neuer Verfahrenstermin, immer neues Hoffen, neues Bangen. Dabei gibt es nur eine richtige Entscheidung: Assange freizulassen.

 

Blinde Flecken

Wenn ich an das Schicksal des Wikileaks-Gründers denke, kommt mir ein Zitat des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec in den Sinn: «Diejenigen, die ihrer Zeit voraus waren, mussten auf diese oft an sehr unangenehmen Orten warten.» Assange hat – wie kein anderer – den blinden Fleck des «Wertewestens» offengelegt: Es gibt sie eben doch, die Dissidenten in der «freien Welt», also dort, wo es per definitionem keine Dissidenten geben kann, denn jeder ist hier doch frei, seine Ansichten im Rahmen der Gesetze zu äussern. Diese Illusion hat Assange zerstört. Die USA und Grossbritannien zeigen ihre hässliche Fratze, indem sie Assange mehr oder weniger auf Raten zu Tode quälen. Kein medialer Aufschrei, keine Demonstration, kein Solidaritätskonzert, kein Eingreifen eines Uno-Folterbeauftragten hat daran je etwas geändert. Das Schicksal Assanges wurde zum Gradmesser, zur Fieberkurve des Werteverfalls des Westens.

Wer die Beziehung oben versus unten kritisch thematisiert, kommt auf die Abschussliste.

Am Schicksal des bekanntesten Häftlings des Westens lässt sich das Schicksal von uns allen ablesen. «Freiheit ist unteilbar», sagte einst John F. Kennedy in seiner Berliner Rede. Wenn nur einer versklavt ist, sind es alle. Man muss ergänzen: in unterschiedlichem Masse, sicherlich. Aber eben doch. Denn wenn das Recht im Fall Assange keine Rolle zu spielen scheint, wer will dann darauf vertrauen, dass es für ihn selbst gilt? Der Wertewesten hat sich selbst aus den Angeln gehoben, die Alte Welt ist aus den Fugen. Die Zeichen des Niedergangs sind für alle unverkennbar.

Es gibt keine Demokratie ohne Transparenz und letztlich ohne Rechenschaftspflicht der gewählten Repräsentanten gegenüber dem Volk, dem Souverän. Wie soll jemand in der Demokratie Entscheidungen treffen, wenn ihm wesentliche Informationen vorenthalten bleiben? Das Wirken von Assange zielte genau auf diesen Punkt. Erst durch maximale Transparenz lassen sich Korruption und nachteiliges Wirken zu Lasten des Bürgers verhindern. Kriege beginnen mit Lügen. Frieden kann es nur dort geben, wo die Wahrheit noch etwas zählt.

Assange hat die Kriterien offengelegt, nach denen Demokratien gegen Regimekritiker vorgehen. Es scheint eine einfache Regel zu geben: Wer sich in seinem Wirken auf der vertikalen Ebene bewegt, also die Beziehung oben versus unten, Eliten gegen Volk, kritisch thematisiert, kommt auf die Abschussliste. Der Schuss erfolgt aber nicht sofort, sondern erst, wenn man mit der Kritik die kritische Masse erreicht. Wer die Zentren der Macht gefährdet, und zwar ab einer gewissen Wahrnehmungsschwelle, der lebt in allen politischen Systemen gefährlich, egal, ob in Diktaturen oder Demokratien.

Die Machtzentren wehren sich immer mit dem gleichen Muster der willkürlichen Gewalt, Zersetzung und Solidaritätsentziehung. Die CIA plante sogar, Assange zu ermorden. Für die kleineren Fische tut es das bewährte Zersetzungsprogramm: Wer auf der vertikalen Ebene zu kritisch unterwegs ist, wird auf der horizontalen Ebene, dem Links-rechts-Schema, in seine Einzelteile zerlegt. Die Bauernproteste in Deutschland wurden sofort auf einen Kampf gegen rechts umgeframet. Astroturfing oder «Kunstrasenbewegung» nennt man die Entstehung staatlich gewollter Pseudo-Protestbewegungen. Die Empörung wird umkanalisiert, weg von den Zentren der Macht, hin zum Gegner. Gerade läuft in Deutschland eine mediale Kampagne gegen den reichweitenstarken Podcast «Hoss & Hopf», in welchem zwei freiheitsliebende Unternehmer mit grossem Erfolg die Weltlage kommentieren. Merke: Mit dem Erfolg kommt das Etikett «rechts» fast automatisch. Auch bei Assange hat man versucht, verschiedene Sudel-Etiketten aufzukleben, um die Solidarität mit dem Wikileaks-Gründer zu brechen: Antisemit, Putin-Freund, Spion, Vergewaltiger.

 

Das wahre Gesicht

Dieses durchschaubare Spiel der Etikettierung und Solidaritätsablenkung wird umso abstruser, wenn man sieht, wem der Wertewesten und seine Protagonisten ungeteilte Solidarität bis hin zur Nibelungentreue zukommen lässt: der ukrainischen Militärführung, die mit Nazisymbolik auftritt; einem Alexei Nawalny, der seine rassistische und rechtsradikale Gesinnung offen zur Schau trug, Hauptsache, es ging gegen Putin (der Tod des amerikanischen Journalisten Gonzalo Lira in einem ukrainischen Gefängnis interessierte im Westen niemanden). Einem Benjamin Netanjahu, dessen rechtsextreme Regierung laut Beschluss des Internationalen Gerichtshofs (IGH) dabei ist, einen Völkermord in Gaza zu begehen. Manche nennen all das Heuchelei oder Doppelmoral. Tatsächlich ist es viel mehr: Es ist die Offenbarung des wahren Gesichts des Westens durch die öffentliche Aufgabe seiner Massstäbe. Es ist eine Kapitulation des Rechts vor der Macht. Ein Wertewesten, der in gänzlicher Werteverwirrung agiert, wird von niemandem mehr ernst genommen. Für diese Form der Legitimationssabotage braucht es noch nicht mal Gegner. Wer will, findet diese Ungereimtheiten an jeder Ecke, sie quellen dem System förmlich oben aus dem Kragen heraus: Wer den Klimawandel durch pupsende Kühe verhindern will, aber zugleich moralisch treffsicher glaubt, die Kriegsmaschinerie hochfahren zu können, hat jedes Misstrauen verdient.

Assange ist ein Aufdecker und radikaler Wahrheitsfreund. Und damit einer von denen, welche die Demokratie am Leben erhalten, während das Leben aus ihm entweicht. Assange wusste: Man kann als Journalist Schlimmeres verhindern, wenn man den Lichtstrahl der Transparenz auf den dunkelsten Fleck richtet. Er selbst tat es immer wieder. Die Welt, die ihm in Sachen Aufklärungsarbeit mehr zu verdanken hat als jedem anderen Journalisten, kann ihm gerade genau dadurch die grösste Ehre erweisen: indem sie das grelle Licht der Öffentlichkeit auf seinen Fall richtet.

 

Milosz Matuschek ist Jurist und Herausgeber von www.freischwebende-intelligenz.org. Zuletzt veröffentlichte er die Kolumnensammlung «Stromaufwärts zur Quelle» (BoD, 2023).

Die 3 Top-Kommentare zu "Freiheit für Julian Assange"
  • Robert Barmettler

    Besser kann man den Artikel nicht (unfreiwillig) zusammenfassen. Wer den Mächtigen auf die Finger schaut, wird irgend in eine Ecke gestellt. Hier die Schnüffler- und Petzerecke. Wird er zu gefährlich, so wird er vernichtet. Und weil es "unsere" Mächtigen sind, wird alles seine Richtigkeit haben. Nein, so ist es nicht: Jeder politische Gefangene ist einer zuviel, egal in welchem Kerker er schmort. Das gilt selbst dann, wenn er kein Heiliger ist.

  • Liszt

    Ausgezeichneter Artikel. Wer meint, in der CH sei es anders, der lebt in Illusionen. Kritisiere mal die Kesb und ihr Therapeutennetzwerk, und Du hast dein Kind los. Das Kind kann Dir gestohlen werden, ohne dass es in geringster Gefahr ist, die eine Entführung rechtfertigte, und Du findest keinen Rechtsanwalt, der Dir helfen könnte. Wer die Mächtigen kitzelt, wird erledigt. Assange erlebt dies in hochpotenzierter Form. GB und USA: schlimmer geht es nicht.

  • elsa

    Das ist eine Vermutung die man nicht beweisen kann! Logik ist nicht jedermanns Sache!