Ein Bekannter aus Deutschland ruft mich an. Ob ich den russischen Unternehmer Andrei Melnitschenko kenne. Der Name sagt mir nichts. Oder doch, ist das nicht der Oligarch, den sie auf die Sanktionsliste gesetzt haben, Putin-Freund, einer dieser korrupten Jachtbesitzer?

Ich google. Andrei Igorewitsch Melnitschenko, «russischer Oligarch und Milliardär» (Wikipedia), geboren am 8. März 1972 in Gomel. Wo zum Teufel ist Gomel? Ich klicke weiter. Gomel ist «mit über 530 000 Einwohnern die zweitgrösste Stadt in Belarus».

Belarus, Weissrussland, ehemalige Sowjetrepublik, heute unabhängig, regiert von einem Diktator, Lukaschenko, der sich nur dank Putin, hört man, an der Macht halte, blutige Geschichte, im Zweiten Weltkrieg wüten die Nazis wie die Bestien, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung kommt um.

Ob ich Melnitschenko interviewen wolle, fragt mein Bekannter, erfahrener Anwalt. Sein Fall sei ein Skandal, die EU-Sanktionen nicht gerechtfertigt, der Bundesrat «hösele» mit seinem blinden Nachvollzug einfach hinterher, eine Schande für den Rechtsstaat Schweiz.

Melnitschenko sei kein Oligarch, sagt er, kein Putin-Handlanger, im Gegenteil, er sei brillant, Physiker, Selfmade-Unternehmer, Aufstieg vom Banker zum Industriellen, Erbauer einer Mega-Jacht, die Steve Jobs von Apple haben wollte, seine Frau bildhübsch und klug, Wohnsitz St. Moritz.

Muss das sein? Jetzt auch noch ein «Oligarch». Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir: «Köppel völlig verrückt, verteidigt russischen Milliardär». «Hat der Weltwoche-Chef endgültig den Verstand verloren?» «Putin allein reicht wohl noch nicht?»

Die Welt spinnt. Die öffentliche Meinung ist wie Beton. Wer nicht mitmacht, macht sich verdächtig. Mein Ruf ist wieder mal angeschlagen, mehr als sonst. Henryk Broder nennt mich einen «Putinisten». Warum? Weil ich für die Schweizer Neutralität und gegen den Einmarsch der Nato in die Ukraine bin.

Politik ist die Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Das hat der Nazi-Staatsrechtler Carl Schmitt geschrieben. Für einmal hatte er recht. Der Krieg in der Ukraine spaltet auch die Schweiz. Wer nicht trommelt für Selenskyj, ist automatisch für den Teufel Putin. Neutralität? Ein Schwerverbrechen. Angeblich.

Ich zappe durchs Internet. Melnitschenko lebt seit fast zwanzig Jahren nicht mehr in Russland. Als Bankier gewann er internationale Preise. Die von ihm gegründeten Unternehmen produzieren Dünger und Kohle, führende Stellung, weltweit 130 000 Mitarbeiter, tadelloses Management.

Der Fall fesselt mich. Als einer der ersten Russen verurteilt Melnitschenko öffentlich Putins Krieg. Trotzdem packen ihn die EU und die Schweiz. Die USA lassen ihn in Ruhe. Warum? Noch merkwürdiger: Bern und Brüssel sanktionieren auch seine Frau, Fotomodell aus Kroatien.

Was ist hier los? Der Name Melnitschenko fällt im Bundeshaus. Während einer Ukraine-Debatte fordert ein Linker härtere Strafen. Bundesrat Parmelin muss sich rechtfertigen. Ich rufe meinen Bekannten, den deutschen Anwalt, wieder an. Das Melnitschenko-Interview wird aufgegleist.

Wir machen ab. Der Industrielle darf nicht mehr in die EU einreisen. Sein Besitz in St. Moritz ist eingefroren, die Jacht wurde von den Italienern beschlagnahmt. Journalisten des Schweizer Fernsehens pirschen mit ihren Kameras wie Stalker um die verlassene St. Moritzer Villa.

Wir treffen uns in einem Hotelresort bei Dubai. Draussen ist es über vierzig Grad. Lassen sie ihn nicht mehr in die Schweiz? Melnitschenko antwortet bitter: «Warum soll ich in ein Land zurück, das mich, meine Frau und meine beiden Kinder wie Verbrecher behandelt?»

Unser Gespräch dauert fast sechs Stunden. Es fliesst literweise Tee. Der Multimilliardär trägt Sandalen, lockere Kleidung, eher Rockstar oder Spitzensportler, eins neunzig, kantiges Gesicht, laserscharfe Intelligenz, Humor, aber auch Selbstkritik, viel Enttäuschung, vor allem über die Schweiz.

Er erzählt von seinen Eltern, den Erfolgen in der Schule, wie er den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte, dann sein Aufstieg als Unternehmer aus eigener Kraft, Risiken, Reichtum, glückliches Familienleben in der Schweiz, die Katastrophe des Kriegs, die drohenden Dünger- und Hungerkrisen.

«Ich werde bestraft, weil ich Russe bin und reich», sagt Melnitschenko. Dabei sei er weder «Oligarch», noch gehöre er zu «Putins engstem Kreis», wie die EU und die Schweiz behaupten. Seine Anwälte protestieren seit Monaten, doch er und seine Frau erhalten nicht mal rechtliches Gehör.

Europa, die Schweiz rühmen sich stolzer Fundamente: Garantie des Eigentums, Rechtsstaat, keine Strafe ohne Gesetz, der Beschuldigte hat das Recht, sich zu verteidigen. Nichts davon scheint hier zu gelten. Die Briefe der Melnitschenkos laufen ins Leere, keine Antwort aus dem Bundesrat.

Sind wir in Europa, sind wir in der Schweiz wieder so weit, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Nationalität und ihres Vermögens verfolgt, entrechtet werden können? Fallen wir zurück in Stammesjustiz und Sippenhaft? Macht uns der Hass auf Putin blind für unsere eigenen Werte?

Das sind die Fragen, die mir beim Abtippen des Interviews durch den Kopf gehen. Was ist nur aus der Schweiz geworden? Aus Angst vor dem Ausland entzieht der Bundesrat einer Familie, die hier offiziell wohnt, Steuern zahlt und sich an unsere Gesetze hält, den Schutz des Schweizer Rechts.

So habe ich mich entschieden, doch noch über diesen unfassbaren Fall zu schreiben. Wenn Sie mögen, lesen Sie das grosse, wirklich sehr grosse Interview mit dem aus meiner Sicht zu Unrecht bestraften Unternehmer Andrei Melnitschenko. R. K.

 

Lesen Sie hier das ganze Interview: «Ich werde bestraft, weil ich den falschen Pass habe und reich bin»