Juli 1995: Bosnisch-serbische Milizen ermorden in Srebrenica 8000 muslimische Männer und Jungen – der schlimmste Genozid auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1992 und 1995 fliehen wegen des Krieges über 24 000 Personen in die Schweiz. Eine davon: die 1992 geborene Sanija Ameti. Ihre bosnisch-muslimischen Eltern hatten sich kurz vor den Gräueltaten abgesetzt. In der Schweiz wurden sie von einem Schlepper aus dem Lastwagen geschmissen. Er wollte mehr Geld für die Weiterfahrt. Die Familie hatte keines. Also blieben sie hier.

26 Jahre später, im Oktober 2021: Das ehemalige Flüchtlingskind sitzt auf einem Podium in Friedrichshafen am Bodensee-Business-Forum und debattiert zum Thema, wie es «nach dem geplatzten EU-Rahmenabkommen mit der Schweiz weitergehen soll». Seit kurzem fungiert Ameti als Co-Präsidentin der Operation Libero. Auf der deutschen Seite des Schwäbischen Meers absolviert sie einen ihrer ersten Auftritte in ihrer neuen Funktion. Die zierliche junge Frau mit den langen dunklen Haaren, im modischen braunen Hosenanzug mit passenden Pumps, die nach eigenen Angaben ihre Texte am liebsten in der Badewanne schreibt, wirkt auf der Bühne im Graf-Zeppelin-Haus mit den älteren, etwas hemdsärmeligen Herren – dem Unternehmer Konrad Hummler, dem Ex-Diplomaten Tim Guldimann und dem südbadischen Abgeordneten des EU-Parlaments, Andreas Schwab – auf eine durchaus charmante Art exotisch.

Nützliches Feinbild

Ameti steht vor keiner leichten Aufgabe. Doch die schwierige Mission scheint sie zu beflügeln.

Doch wenn sie zur Sache kommt, mutiert sie rasch zur Polterin, die mit einfachen Erklärungen auf komplexe Fragen punkten will. Der Grund, warum sich die Schweiz partout nicht stärker in die Europäische Union integrieren will? Daran sei «die Geschichtsklitterung schuld», sagt die Juristin. Zuerst sei da die vom deutschen Dichter Friedrich Schiller erfundene Geschichte vom Nationalmythos Wilhelm Tell, dann die 1815 am Wiener Kongress von den europäischen Mächten von aussen verordnete Neutralität und schliesslich das Bild des zentralstaatlichen Ungeheuers EU, das den Schweizern als nützliches Feindbild diene.

Ausgemalte Erzählungen, manipulierte historische Ereignisse und eine Sündenbockmentalität? Einen kurzen Moment fragt man sich, ob die Expertin für Völker- und Migrationsrecht hier nicht etwas verwechselt respektive ob sie doch noch nicht ganz in ihrer Heimat fern vom Balkan angekommen ist. Ameti, die im Augenblick an ihrer Dissertation über Cybersicherheit arbeitet, kann es aber auch differenzierter. Korrekterweise denunziert sie die offiziellen Gründe des Bundesrates zum Nein beim Rahmenabkommen als vorgeschoben. Ihre Analyse: «Es geht im Kern um die Souveränität.» Die Regierung habe dieser Debatte aus dem Weg gehen wollen. Sie glaubt, dass die Exekutive erst nach den Wahlen 2023 bereit ist, diesen Diskurs aufzunehmen.

Als Chefin einer Organisation, die sich eine unbedingte Anbindung an die EU auf die Fahnen geschrieben hat, will sie dem obersten Leitungsgremium des Landes und dem Parlament konsequenterweise auf die Sprünge helfen. Die Operation Libero plant, nächstes Jahr eine Europa-Initiative zu lancieren, die insbesondere die vier im Bundesrat vertretenen Parteien zu einem eindeutigen Positionsbezug zwingen soll. Dabei betont Ameti beim Gespräch in einer Bar an der Zürcher Bahnhofstrasse überraschenderweise, dass sie «persönlich gegen einen EU-Beitritt der Schweiz» sei. Als ideale, massgeschneiderte Lösung für die Schweiz habe sie das Rahmenabkommen (InstA) betrachtet. Für Ameti ist der EU-Deal noch nicht endgültig beerdigt. Sie hofft weiter, dass der Bundesrat seinen Entscheid vom Mai korrigiert.

Bei der Burka-Initiative verglich die Operation verhüllte Frauen mit Bauarbeitern in Schutzkleidung.

Mit ihrer direkten Art, die Dinge beim Namen zu nennen, fordert sie die etablierten Parteien heraus. In Bern sorgte sie bereits für einen kleinen Aufruhr. Der neue Präsident der FDP, Thierry Burkart, schimpfte auf Twitter, Ameti entlarve die «Operation Libero als reine Kampftruppe der GLP». Sie bringe keinen konstruktiven Vorschlag und reite auf dem «toten Pferd» des InstA. Nur, dass Sanija Ameti Positionen der Grünliberalen vertritt, kann man ihr kaum zum Vorwurf machen. Sie sitzt in der Parteileitung der Zürcher GLP. Gleichzeitig stimmt die einfache Losung: Wer um jeden Preis in die EU will oder wenigstens wie Ameti eine bedingungslose Anbindung à la Rahmenabkommen befürwortet, muss notgedrungen in dieser Gruppierung mitmachen. Bei allen andern ist eine so eindeutige Positionierung ein politisches No-Go, wie die Diskussionen um den versenkten Vertrag mit der EU demonstrierten.

Einen einfachen Job tritt die 28-Jährige nicht an. Die Operation Libero steckt im Tief. Vorbei die Zeiten, als sich Ametis Vor-Vorgängerin Flavia Kleiner innert kurzer Zeit zum Polit-Star mauserte. Die Zürcherin stammt aus einer FDP-Familie und gehörte zu den Mitbegründern der Operation Libero – eine Reaktion auf die Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative im Jahr 2014. Mit der «Populisten-Knackerin» (US-Politikmagazin Politico) eilte die Organisation von Erfolg zu Erfolg. Sie führte sechs Abstimmungskämpfe – und ging immer als Siegerin vom Platz.

Der Lack ist ab

Im Mai 2020 trat Kleiner zurück, Laura Zimmermann – ebenfalls aus einem FDP-Haus – übernahm das Zepter. Doch der Lack ist ab. Ende Jahr vermeldete die Operation Libero, es gehe ihr das Geld aus. Ohne frische Spenden mache man den Laden dicht. Dann ging’s auf Betteltour. Auch politisch ist die Gruppe aus der Spur geraten. Bei der Burka-Initiative im Frühjahr verglich die Kampagne der Operation Libero verhüllte Frauen ernsthaft mit Menschen in Brautkleidern, Arztkitteln, Bauarbeiter-Ausrüstung oder Fasnachtskostümen. «Alle Menschen haben das Recht, selbst zu wählen, wie sie sich kleiden wollen», lautete die dümmliche Botschaft. Die Folge war eine Niederlage an der Urne.

Mit der Opposition gegen die polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus fuhr die Truppe ebenfalls eine Klatsche ein. An vorderster Front setzte sich ausgerechnet Ameti vehement für ein Nein ein. Bei der wichtigsten Klimaabstimmung seit langem – dem CO2-Gesetz – ging man dagegen auf Tauchstation. Angeblich, weil die Verantwortlichen in der Umweltpolitik keine Erfahrung haben. Dafür heimste die ewige und erklärte Gegnerin der Operation Libero – die SVP – einen riesigen Erfolg ein. Mittlerweile backt man deshalb kleinere Brötchen. Geradezu überschwänglich feierte die Führung das erwartete Ja im September zur «Ehe für alle». Ein Triumph im Schlafwagen sozusagen.

Ameti steht vor keiner leichten Aufgabe. Doch die schwierige Mission scheint sie zu beflügeln. Privat ist sie seit längerem mit dem Anwalt Florian Schmidt-Gabain liiert. Die beiden leben im Zürcher Kreis 4 und passen offensichtlich gut zusammen. Beide setzen sich gerne ehrgeizige Ziele. Sie will die Schweiz um jeden Preis an die EU andocken und die Operation Libero wieder in Fahrt bringen. Ihr dandyhafter Partner störte im Frühjahr die Wahl des Präsidenten der Zürcher Kunstgesellschaft. Der auf Provenienz- und Kunstrecht spezialisierte Anwalt erfrechte sich, die von der Politik- und Wirtschaftselite der Limmatstadt aufs Schild gehobene Kandidatin herauszufordern. Erfolglos, aber couragiert sorgte der gebürtige Lengnauer für die erste Kampfwahl überhaupt an der Zürcher Kulturinstitution und hat damit einige Diskussionen angestossen, die der selbstverliebten, oft abgehobenen und versnobten Kulturschickeria in «Downtown Switzerland» nur guttun können.

Ob die Operation Libero unter der neuen Führung wieder durchstarten wird, dürfte sich schon bald weisen. Erster Knackpunkt stellt das angekündigte Volksbegehren dar. Ist die Organisation tatsächlich in der Lage, 100 000 Unterschriften für eine europapolitische Initiative zu sammeln? Kann sie zum Sammelbecken der frustrierten Anhänger des Rahmenabkommens werden, die den Entscheid des Bundesrats nicht hinnehmen können? Denn das EU-Thema bleibt matchentscheidend, da sich die Truppe bei den wichtigsten anderen Themen – der Klima- und der Covid-Politik – abseits hält. Das nächste Jahr wird für die Operation Libero zum make or break-Jahr. Sanija Ameti muss sich auf jeden Fall sputen.