Zahlreiche Videos aus der Ukraine haben uns in den vergangenen Tagen vor Augen geführt, mit welcher Entschlossenheit sich die Menschen dem übermächtigen russischen Aggressor entgegenstellen. Denken wir nur an jene Frau, die einem bewaffneten russischen Soldaten zuruft, er solle sich Sonnenblumenkerne in die Uniformtaschen stecken, so dass dort, wo er sterben wird, wenigstens Sonnenblumen wachsen werden. Oder die heroischen Selfies von Präsident Selenskyi, der seinen Landsleuten Mut macht.

Die Ukrainer sind Widrigkeiten gewohnt, und sie haben in Olga von Kiew ein besonderes Vorbild aus dem Mittelalter, das ihre Tapferkeit im Angesicht existenzieller Bedrängnis verkörpert. Die Mongolen zerstörten 1240 in Kiew ihr Grab, aber noch 2010 wurde eine ukrainisch-orthodoxe Kathedrale ihr zu Ehren geweiht.

Olga von Kiew, Gemahlin von Igor, dem zweiten Herrscher der Rurikiden-Dynastie, gilt heute als eine der bedeutendsten Heiligen der orthodoxen Kirche. Sie war eine mutige, stolze Frau, die ihren jungen Sohn schützte und den Tod ihres Mannes rächte. Sie spielte auch eine herausragende Rolle bei der politischen Konsolidierung der mittelalterlichen Kiewer Rus und bei der Christianisierung der einheimischen Bevölkerung.

Schutzlos in einer brutalen Gegend

Olga, um das Jahr 920 bei Pskow (Nordrussland) geboren, stammte aus einer Familie von Warägern. Sie heiratete als junges Mädchen Fürst Igor und war vielleicht erst zwanzig, als die Drewljanen, ein benachbarter Stamm, sich gegen ihn erhoben und ihn töteten.

Leon Diakonos, der byzantinische Chronist, beschreibt die Ermordung so: Igor wurde mit den Füssen an zwei niedergebogene Birken gebunden, die, als sie dann wieder hochschnellten, seinen Körper in zwei Teile rissen. Diese Darstellung mag ausgeschmückt sein (ein ähnlicher Vorfall wurde von dem antiken Historiker Diodor von Sizilien geschildert), aber nach Igors Tod stand seine Frau mit dem dreijährigen Sohn allein da, schutzlos in einer besonders gefährlichen und brutalen Gegend der mittelalterlichen Welt.

Bei lebendigem Leib begraben

Olgas Geschichte kann uns helfen, den Kampfeswillen der Ukrainer zu verstehen.

Olgas Reaktion in den anschliessenden Wochen und Monaten sollte ihre Legende begründen. Abgesandte der Drewljanen unterbreiteten ihr den Vorschlag, den drewljanischen Fürsten Mal zu ehelichen. In der «Nestor-Chronik», einer Handschrift aus dem 11. Jahrhundert, unserer wichtigsten Quelle für diese Geschichte, heisst es, Olga habe die Abgesandten scheinbar freundlich empfangen, um Zeit zu gewinnen. Auch diese Darstellung mag geschönt oder erfunden sein, aber das ist nicht der Punkt. In der mittelalterlichen Hagiografie geht es vor allem um die Moral der Geschichte.

«Euer Vorschlag gefällt mir», sagte Olga zu den Abgesandten. «Mein Mann wird nicht wieder lebendig, in der Tat. Aber ich möchte euch morgen im Beisein meines Volkes empfangen. Kehrt nun zu eurem Boot zurück. [. . .] Morgen werde ich euch abholen lassen.» Die übermütigen drewljanischen Abgesandten glaubten ihr. Aber sie wussten nicht, dass Olga einen Graben hatte anlegen lassen, in den sie mitsamt ihrem Boot geworfen und dann bei lebendigem Leib begraben wurden.

Olga liess eine zweite drewljanische Delegation kommen, bevor die Nachricht vom Schicksal der ersten das Siedlungsgebiet der Drewljanen erreichen konnte. Bei deren Ankunft befahl sie, den Männern ein Bad zu bereiten. Die Drewljanen betraten das Badehaus, doch Olga befahl, die Türen zu verriegeln und das Haus anzuzünden.

Um ein drittes Mal Rache zu nehmen, begab sich Olga an den Ort, wo ihr Mann von den Drewljanen ermordet worden war. Den Anwesenden gab sie bekannt, dass sie ein Fest zu seinem Gedenken veranstalten wolle. Kaum waren die Drewljanen betrunken und ausser Gefecht gesetzt, wurden sie von Olgas Männern hingemetzelt.

Schliesslich belagerte Olga die drewljanische Hauptstadt Iskorosten (das heutige Korosten in der Ukraine). Den Bewohnern der Stadt machte sie ein verlockendes Friedensangebot: Jedes Haus solle lediglich drei Tauben und drei Spatzen abliefern. Sobald alle Vögel eingesammelt waren, befahl Olga ihren Männern, ein schwefelgetränktes Tuch um den Fuss eines jeden Vogels zu wickeln. Die Vögel flogen heim in ihre Nester, und durch den Schwefel wurden sämtliche Häuser in Brand gesetzt. Wer aus der brennenden Stadt floh, wurde getötet oder in die Sklaverei verschleppt. Olgas Rache für den Tod ihres Mannes war nun vollendet.

Olga lebte noch 25 Jahre in Kiew, der Hauptstadt ihres Sohnes. Sie beschwor ihn, das ukrainische Land nicht wegen «besserer Chancen» weiter südlich am Donauufer aufzugeben. Ihr Enkel, Wladimir der Grosse (ca. 956—1015), erweiterte das Königreich und machte daraus das erste russische Fürstentum (für Wladimir Putin der Vorläufer des grossrussischen Reichs). Auch Wladimir der Grosse wird wegen seiner Rolle als Vollender der von Olga begonnenen Christianisierung als Heiliger betrachtet.

Halt in schwierigen Lebenssituationen

Wir Heutigen dürften Olgas wilde Racheaktionen befremdlich finden. In der modernen Welt sollte es nicht so viel Blutvergiessen geben. Deshalb sind wir auch so schockiert angesichts des brutalen russischen Überfalls auf ein friedliches Land.

Olgas Geschichte kann uns aber helfen, den Kampfeswillen der Ukrainer zu verstehen. Die orthodoxe und die griechisch-katholische Kirche haben ihr den ehrwürdigen Titel isápostolos (apostelgleich) verliehen. Sie und der Erzengel Michael, der Schutzheilige von Kiew, sind bedeutsame Fürsprecher für all jene, die in Zeiten grösster Not Beistand und Trost brauchen.

Der christliche Glaube, zu dem Olga in späteren Jahren fand, kann den Menschen von heute Halt geben, so wie er ihr in schwierigen Lebenssituationen half.

 

Miles Pattenden ist Forschungsbeauftragter für mittelalterliche und frühneuzeitliche Studien an der Australian Catholic University und Mitherausgeber der Zeitschrift The Journal of Religious History.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.