Makoto Myara ist ein aufmerksamer Doktor der Medizin. Der aus Japan stammende Internist tut auf dem Höhepunkt der Corona-Heimsuchung Frankreichs Dienst im Hôpital Pitié-Salpêtrière in Paris. Am 15. März ruft er seine Kollegen, die Professoren Zahir Amoura und Julien Haroche, in einen Konferenzraum des Gebäudes E3M des Spitals zusammen. Amoura gilt als einer der besten Internisten Frankreichs, Haroche ist schon aufgrund seines Namens als Sohn des Physik-Nobelpreisträgers Serge Haroche eine Berühmtheit.

Myara hat eine aufsehenerregende Entdeckung mitzuteilen: Es ist ihm aufgefallen, dass unter den hospitalisierten Covid-19-Patienten erstaunlich wenige rauchen. Anfangs belächeln die Kollegen die Theorie: Ausgerechnet das Rauchen, seit Jahrzehnten als Geissel der Volksgesundheit berüchtigt, soll bei Corona auch Positives bewirken? Der Komiker Otto Waalkes lässt grüssen: «Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Rauchen doch nicht schädlich ist. Gezeichnet Dr. Marlboro.» Erst als Myara eine Woche später insistiert, beschliessen die drei Ärzte, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie lassen systematisch alle Patienten in Raucher und Nichtraucher unterteilen.

 

Zwei Theorien

Auf Anhieb scheint sich die Vermutung Myaras zu bestätigen: Von den 500 hospitalisierten Patienten können nur 5 Prozent als Raucher identifiziert werden. Die Daten werden mit der nationalen Raucherstatistik abgeglichen – und die Differenz, die sich auftut, ist frappierend: Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind die Raucher um den Faktor vier bis fünf untervertreten, selbst nach der Bereinigung um Altersgruppe und Geschlecht. So eine gewaltige Differenz «sieht man selten in der Medizin», heisst es in einem ersten schriftlichen Bericht. Weitere Indizien treffen ein. So sind sowohl die Insassen psychiatrischer Kliniken als auch von Gefängnissen viel weniger von der Corona-Erkrankung betroffen, als es statistisch zu erwarten wäre; beide Bevölkerungsgruppen zeichnen sich in Frankreich durch einen stark gesteigerten Raucheranteil aus.

Nun wollen es die Mediziner genau wissen. Sie beantragen beim Institut national de la santé et de la recherche médicale (Inserm) finanzielle Mittel für eine grossangelegte Studie mit Nikotinpflastern. Die Antwort vom 6. April ist abschlägig; eine solche Untersuchung habe keine Priorität. Der 84-jährige Neurowissenschaftler Jean-Pierre Changeux, ein Pionier auf dem Gebiet der Nikotinforschung und Mitglied der Académie française, schaltet sich ein. Im Jahr 1970 hat er den Acetylcholin-Nikotinrezeptor entdeckt – wir kommen darauf zurück. Dann, am Ostermontag, ruft Gesundheitsminister Olivier Véran persönlich im Hôpital Pitié-Salpêtrière an: «Allez-y. On va vous financer» (Schiessen Sie los, wir werden Sie finanzieren). Die französische Arbeit weckt das Interesse weiterer Forscher. Am University College London machen sich Wissenschaftler daran, die Hospitalisierungsstatistiken verschiedener Länder auf den Raucheranteil abzuklopfen. Sie untersuchen 28 Veröffentlichungen und notieren: Der Anteil an Rauchern sei allgemein «tiefer als zu erwarten». Eine ähnliche Aufgabe stellt sich Konstantinos Farsalinos, ein Kardiologe am Onassis-Zentrum für Herzchirurgie in Athen. Gemäss seiner Studie, die das Peer-Review-Verfahren durchlaufen und gerade im Fachjournal Internal and Emergency Medicine erschienen ist, weist Farsalinos für China «eine unerwartet tiefe Prävalenz von aktuellen Rauchern» im Vergleich zum Raucheranteil von 25 Prozent in der Bevölkerung aus.

Ursächlich stellt sich die Frage: Was könnte die offenbar präventive Wirkung von Tabak gegen schwere Corona-Verläufe erklären? Derzeit dominieren zwei Theorien: Die erste besagt, dass das Nikotin direkt gegen das Coronavirus wirkt. Die zweite Theorie ist subtiler und baut auf dem in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Wissen über das System der Nikotinrezeptoren auf; das menschliche Nervensystem und vor allem das Gehirn sind mit Andockungsstellen für Nikotin übersät, den bereits erwähnten und von Jean-Pierre Changeux entdeckten Acetylcholin-Nikotinrezeptoren – evolutionsgeschichtlich ist es eines der ältesten neuronalen Untersysteme. Die Stimulierung dieser Rezeptoren durch das Nikotin kann in zwei Richtungen wirken: Sie hemmt die Aktivität der Nervenzellen im Fall einer übersteigerten Aktivität, und sie wirkt anregend bei gehemmter Funktion. Die Hypothese: Das Nikotin könnte die Aktivität der Nervenzellen bei Covid-19-Patienten dämpfen und dadurch den gefürchteten Zytokinsturm unterbinden – eine lebensgefährliche Überreaktion des Immunsystems bei Infizierten. Farsalinos geht sogar so weit, zu vermuten, dass schwere Krankheitsverläufe als Erkrankung des Systems der Nikotinrezeptoren charakterisiert werden können.

 

Unverhoffte kognitive Kraft

Ein Forscher, der seit vier Jahrzehnten die Wirkung des Nikotins untersucht, ist Paul Newhouse, Professor für kognitive Störungen am Vanderbilt University Medical Center in Nashville, Tennessee. In einem Radiointerview hat er Nikotin kürzlich als das «perfekte psychotrope Mittel» bezeichnet, weil es die Nervenzellen eben in beide Richtungen schubsen kann. Der müde Schreibtischarbeiter erhält durch es unverhoffte kognitive Kraft; bei dem zur Hinrichtung verurteilten Delinquenten löst die aus Literatur und Film berühmte letzte Zigarette zumindest teilweise den Stress unter Todesangst. Newhouse ist dabei, diese Wirkung des Nikotins therapeutisch nutzbar zu machen gegen Krankheiten, die mit beschleunigter Alterung des Gehirns einhergehen: das Down-Syndrom, Alzheimer, die Parkinson- und die Huntington-Krankheit, aber auch Aids.

Lange vor der modernen Spitzenmedizin schätzten bereits die Ureinwohner Lateinamerikas das Nikotin für seine schmerzlindernde und entzündungshemmende Wirkung. Es wurde beispielsweise als Narkotikum bei medizinischen Eingriffen eingesetzt. Nach der Entdeckung der Neuen Welt trat der Tabak zunächst als mutmassliche Heilpflanze einen Siegeszug in den europäischen Breitengraden an. Der französische Botschafter in Portugal und Namensgeber des Nikotins, Jean Nicot (1530–1600), nahm für sich in Anspruch, eine mittelalterlichen Ärzten unter der lateinischen Bezeichnung «noli me tangere» bekannte Geschwulst im Gesicht mit Tabakkompressen geheilt zu haben. Bis heute ist die Tabakpflanze, wissenschaftlich als nicotiana bekannt, mit grossem Abstand der wichtigste Lieferant von Nikotin; die Blätter des Nachtschattengewächses bestehen aus bis zu 9 Prozent Nikotin. In der synthetischen Herstellung ist Nikotin bis heute um ein Vielfaches teurer.

 

Umfangreiche Forschung

Sogar abseits seiner Funktion als Nikotinproduzent erfreut sich der Tabak wachsender Beliebtheit in der Biopharmazeutik. Es handelt sich um die erste Pflanze überhaupt, bei der eine gentechnische Veränderung gelang. Heute ist es beispielsweise möglich, bestimmte Proteine in die junge Pflanze zu injizieren, die der Tabak aufgrund seines schnellen Wachstums rasch vervielfältigt – die Tabakpflanze als biologische Minifabrik für medizinische Wirkstoffe. Das Verfahren ist im Vergleich zur herkömmlichen Kultivierung der Proteine im tierischen Umfeld (etwa mit Hilfe von Hühnereiern) wirtschaftlicher und vor allem schneller.

Beispiele für die erfolgreiche Anwendung sind die kanadische Medicago, die zu 40 Prozent zu Philip Morris gehört, und die amerikanische Kentucky Bioprocessing, eine Tochtergesellschaft von British-American Tobacco. Erstere stellt auf diese Weise einen Grippeimpfstoff her, Letztere Ebola-Antikörper. Auch ein dritter Tabakgigant, Japan Tobacco International, betreibt eine umfangreiche pharmazeutische Abteilung. Mit ersten Ergebnissen der französischen Nikotinpflaster-Studie wird innert Monatsfrist gerechnet.

 

Der Autor ist regelmässiger Konsument von Tabakprodukten.