Mir ist eine philippinische Regierung wie die Hölle lieber als eine amerikanische wie der Himmel», sagte einst der philippinische Freiheitskämpfer Manuel Quezon. Die Amerikaner können dies offenbar bis heute nicht verstehen. Sie sahen sich als Wohltäter und wollten das zuvor spanische Land nach ihren Vorstellungen «zivilisieren» und nicht ausbeuten wie die europäischen Kolonialmächte. Der Glaube, die übrige Welt mit ihrer Lebensweise beglücken zu müssen, ist fester Bestandteil ihres Selbstverständnisses. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieses Unterfangen in Deutschland und Japan weitgehend geglückt. Wahrscheinlich erachteten die USA diese Ex-Feinde als kulturell halbwegs ebenbürtig und konnten sich somit bis zu einem gewissen Grad in sie hineinversetzen – eine Grundvoraussetzung, um jemanden zu verstehen.
Gegenüber Muslimen scheint diese Fähigkeit weitgehend zu fehlen. Die Sicht der Abendländer auf den Islam ist geprägt von Vorurteilen und Verachtung. Zu keinem Kulturkreis haben wir – spätestens seit den Kreuzzügen – ein derart gespanntes Verhältnis wie zum islamischen. In jüngerer Zeit hat der Palästinakonflikt die Vorurteile genährt. Wir wollten nicht verstehen, dass die Palästinenser à tout prix nicht bereit waren, die Zeche für die jahrhundertelange Verfolgung der europäischen Juden zu bezahlen.
Insel- und Bergvölker, denen die Geografie natürliche Grenzen beschert, sind vielleicht mehr als Flachländer auf Eigenständigkeit erpicht. Dies erklärt die besondere EU-Skepsis von Briten und Schweizern und die Tatsache, dass bereits drei Weltmächte beim Versuch gescheitert sind, Afghanistan zu unterwerfen.
Briten und Sowjets scheiterten kläglich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, obwohl ihr Territorium jeweils direkt an Afghanistan grenzte. Zu meinen, die USA, mit weit geringerer Landeskenntnis, als Briten und Sowjets sie hatten, könnten dieses Binnenland vom andern Ende der Welt her dauerhaft unterwerfen, war Hybris.
Der Sieg der Taliban ist weniger ein Sieg eines fanatischen Islam als einer des unbändigen Willens eines Bergvolkes zur Eigenständigkeit. Insofern gibt es auch eine Parallele zum Scheitern Napoleons beim Versuch, den Schweizern mit der zentralistischen Helvetischen Republik eine Staatsform nach französischer Façon aufzuzwingen. Doch anders als die Amerikaner in Afghanistan und im Irak verstand es Napoleon, die Schweiz mit der Mediationsakte zu befrieden.
Der Islam Afghanistans war historisch gemässigt und relativ tolerant. Dies könnten die Alt-Hippies bezeugen, die das Land in den Sechzigern und Siebzigern als Paradies entdeckten. Seine sehr konservative Prägung war eher eine Folge seiner Rückständigkeit und typisch für ein Bergvolk. Erst nach der Invasion durch die Sowjets propagierten herbeigeeilte Gotteskrieger aus der arabischen Welt einen fanatischen Islam. Deren Eifer, ein Brudervolk vom Joch der Ungläubigen zu befreien, wurde von der CIA zusammen mit dem pakistanischen Geheimdienst und den Saudis gefördert und instrumentalisiert, um die UdSSR vom Hindukusch zu vertreiben. Nun wurden die Amerikaner Opfer ihrer eigenen Medizin.
Aus dieser Geschichte kann der Westen indes auch Hoffnung schöpfen. Es gibt ermutigende Anzeichen, dass zumindest ein massgeblicher Teil der Taliban einer Versöhnung aller Afghaninnen und Afghanen Vorrang gegenüber einer Rückkehr zu einem intoleranten fanatischen Islam nach saudischer Art einräumt, den es in dieser Form historisch kaum je gab. Die Taliban werden sich wohl auch hüten, allzu stark in die Abhängigkeit von China zu geraten, das in der Nachbarregion Sinkiang einen Genozid an den muslimischen Uiguren verübt und unmittelbar an Afghanistan grenzt. Kommt hinzu, dass Afghanistan auch zu allen andern Nachbarn gespannte Beziehungen hat, weil es mit ihnen ethnisch verflochten ist. Es kann daher starke Freunde gebrauchen, am liebsten solche, die weit weg sind und keine Annexionsgelüste (mehr) hegen.
Vielleicht wird sich die Geschichte der USA mit Vietnam nicht nur bezüglich des chaotischen Abzugs wiederholen und nach einer Abkühlungsphase eine Annäherung in beiderseitigem Interesse folgen. Die gegenwärtige Duldung der US-Evakuierungen durch die Taliban mag ein erstes Zeichen dafür sein.
Der Schweiz könnte einmal mehr die Rolle der Brückenbauerin zufallen. Ihr Entscheid, die Entwicklungszusammenarbeit aufrechtzuerhalten, ist sicher weise.
Herodot ist ein der Redaktion bekannter Weltreisender, seit Jahrzehnten wissenschaftlich und politisch tätig, u. a. für die Uno.