Während die Leute in die Läden stürmen und Lebensmittel horten, ist Daniel Weber, 46, frühmorgens wie immer auf seinen Feldern unterwegs. Mit gutem Schuhwerk, am Gürtel das Handy griffbereit, auf dem Kopf eine Wollmütze. Sein Landwirtschaftsbetrieb liegt tief im Berner Seeland über den Hängen des südlichen Bielersee-Ufers, und selbst jetzt, in dieser verrückten Corona-Zeit, ist man einen Moment lang nur überwältigt von der ruhenden Schönheit dieser Landschaft.
Weber grüsst freundlich und auf Distanz, sein «Home-Office» ist nach wie vor draussen, mit den ersten Frühlingstagen kommt noch mehr Arbeit auf die Bauernfamilien zu. «Es gibt doch den schönen Satz ‹Und wenn morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.›» Weber grinst etwas verschmitzter, als es gerade angebracht wäre . . . und klärt dann auf: «Wir sind dabei, 1800 Apfelbäume zu setzen.» Hier wird dem Weltuntergang sehr konkret getrotzt.
«Eine tüchtige Familie, fest gewurzelt in der Erde», heisst es beim Berner Volksdichter Jeremias Gotthelf. Mit seinem Bruder führt Daniel Weber einen klassischen Familienbetrieb. Jeder packt an, allen voran Ehefrau Astrid, die vier Söhne, der «Senior», und sogar der Grossvater, 102-jährig, lebt auf dem Hof. Dreissig Hektaren, mehrheitlich Obstkulturen, etwas Ackerbau. «Die Früchte unserer Arbeit, wortwörtlich, verkaufen wir direkt, hauptsächlich an den Wochenmärkten.» Nur sind diese durch den Bundesrat geschlossen worden. «Jetzt hocken wir auf der Ware.» Aber Webers jammern nicht, sie handeln. Der Hofladen wurde umgehend erweitert, die Werbung in den sozialen Medien hinaufgefahren. Das Kernobst können sie noch länger einlagern, bis der Betrieb umorganisiert ist und das Angebot greift.
Die schmale Passstrasse schlängelt sich von Schwyz hinauf zur Ibergeregg. An so schönen Tagen wie heute wäre das nahe Skigebiet eigentlich proppenvoll und Marcel Dettling, 39, mittendrin am Bedienen der Sesselbahn. Jetzt ist wegen des Coronavirus alles anders – und doch nicht. Der Skibetrieb wurde eingestellt, trotzdem sind viele Radfahrer und Autos unterwegs, Motorräder knattern über die beliebte Bergstrecke. Auch für Dettling, der seinen Kanton für die SVP im Nationalrat vertritt, geht das Leben und vor allem die Arbeit weiter. Sein Betrieb liegt auf 1100 Metern, raues Klima, lange Winter. Er ist gerade auf dem Weg zum Stall, um die zwanzig «Bänzen», Schafe, auf die Weide zu lassen, die hinter dem Gebäude steil nach oben geht. Um ihn herum hüpfen Julia, Eliane und Remo. Sie haben jetzt zu Hause Schule, wobei ihr liebstes Klassenzimmer schon immer der Bauernhof war, selbst im Spielzimmer sind ein Stall und kleine Traktoren zu sehen. Die Kinder wachsen mit der Arbeit ihrer Eltern auf, schauen zu, übernehmen erste Aufgaben, lernen anzupacken. Hier wird die mentale Kraftreserve angelegt für die wichtigste Schweizer Erfolgsmischung: Bodenständigkeit und Eigenverantwortung.
«Es gibt keinen Bauern bei uns in Oberiberg, der nicht einen Nebenjob hat. Ich habe eine Tellerwäscherkarriere hinter mir», sagt Marcel Dettling lachend, der als Küchenhilfe im Tourismus angefangen hat und nun seit vier Jahren für die Bergbahnen arbeitet. Auf dem Betrieb produzieren sie Schaffleisch und mästen Kälber. Hier spüren sie unmittelbar den Zusammenbruch, die Hälfte ihres Kalbfleisches ging bisher an die Gastronomie. «Das ist jetzt unsere grösste Sorge: Wohin gehen wir mit dem Fleisch? Sonst haben wir betrieblich kein Problem. Wir haben noch Diesel, Pflanzenschutzmittel, hofeigenen Mist und Dünger, wir bereiten die Felder für den Sommer vor, damit wir Lebensmittel herstellen können, so dass die Regale voll bleiben.» Seine hellblauen Augen blinzeln in die Sonne. «Jetzt wollen wir unseren Beitrag leisten, wie wir das in den vergangenen Jahren schon wollten.» Auch er und seine Frau Priska haben sofort begonnen, ihren Online-Verkauf ab Hof zu verstärken.
Zur Chäisermatt von Norbert Fischer, 51, führt ein kleines Strässchen. Sein Talbetrieb ist nur halb so gross wie die Bauernhöfe der beiden anderen, aber die gute Qualität des Bodens, das flache Gelände erlauben ihm eine intensive Bewirtschaftung – soweit es die gegenwärtige Agrarpolitik noch zulässt. Diese will mehr Ökologie und Extensivierung statt Lebensmittelproduktion und verteilt Millionen Franken für Steinmäuerchen, Holzlattenzäune und andere «Landschaftsqualitätsbeiträge», wie diese Prämien im Verwaltungsjargon heissen.
Wie vielerorts in der Schweiz, fressen sich die angrenzenden Wohnquartiere immer näher an die schmale Landwirtschaftszone zwischen Stans und Oberdorf. Fischers führen einen Biobetrieb mit 2000 Legehennen, 24 Milchkühen, dazu kommen rund 150 Hochstammbäume. Die Hygieneempfehlungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) sind hier quasi vorgegeben. «Im Hühnerstall sind wir es wegen der Salomonellengefahr gewohnt, sorgfältig zu arbeiten. Kleider und Stiefel werden immer gewechselt im Stallgebäude. Jetzt schauen wir halt im ganzen Betrieb und zu Hause.»
Norbert, seine Frau Andrea und der Lehrling arbeiten wie sonst, die Zulieferung funktioniere, Eier und Milch würden abgeholt. «Nur wenn ich mit dem Güllenwagen auf der Strasse unterwegs bin, merke ich, dass es viel weniger Verkehr hat», sagt Fischer mit einem Schmunzeln. Und die wöchentliche Jodelprobe und die Auftritte sind auch bis auf weiteres abgesagt. «So isch s Volch in üsem Ländli, wiene Arve, härt und starch; ruch und treu, nach usse ruppig, aber gsund im tüfschte March», komponierte Hans W. Schneller (1893–1982). Fischers Kinder haben bereits eine Berufslehre abgeschlossen oder sind in der Ausbildung.
Obstanbau im Berner Seeland, Fleischproduktion im Berggebiet, Biobetrieb im Tal – so vielfältig wie die Schweiz, so unterschiedlich zeigt sich auch die hiesige Landwirtschaft. Und sie steht immer wieder im Zentrum erregter Debatten. Besonders im vergangenen Jahr: «Auf Tausenden Schweizer Bauernhöfen werden Tiere vernachlässigt» (Tages-Anzeiger), «Bauern verschmutzen ungestraft Schweizer Grundwasser» (Blick), «Landwirtschaft: Wie die Milliarden verpuffen» (NZZ). Wie haben die drei Bauern diese grün und wirtschaftsliberal motivierten Kampagnen erlebt? Das Ganze sei vor allem medial getrieben, darin sind sich alle einig. Die Wertschätzung habe jedoch gelitten und sorge für unschöne Szenen. «Durch unsere Betriebe führen viele Wanderwege. Wenn Leute neben der Strasse gehen und du sie aufforderst, nicht durchs Gras zu laufen, heisst es: ‹Das geht dich überhaupt nichts an, wir zahlen euch schon die Beiträge.›», erzählt Marcel Dettling.
Natürlich gebe es Problemfelder, sagt Norbert Fischer, wie in jeder anderen Branche auch. «Aber nur auf die Landwirtschaft zu schiessen, wie etwa bei den Pestiziden, ist unehrlich.» Trotz vieler Verbesserungen würden die Forderungen immer extremer, wie beispielsweise die Trinkwasserinitiative. «Ich habe für meinen Biobetrieb nachgerechnet. Obwohl ich ja heute schon viele Auflagen zu erfüllen habe, müssten meine Hühner weg.» Dafür würden die Eier künftig aus den Niederlanden hierhergekarrt. «Ist das wirklich ökologischer?»
Der liberale Think-Tank Avenir Suisse prangerte noch im Januar das «Privilegienregister» der Schweizer Bauern an und kritisierte den Begriff Versorgungssicherheit: Dieser würde viel zu sehr den Selbstversorgungsgrad ins Zentrum rücken, statt dass man auf Agrarfreihandel und Importketten setze. Marcel Dettling verzieht kurz den Mund und meint dann: «Jetzt sind die gleichen Leute froh, findet man in den Regalen noch etwas zu essen.»
Ebenfalls noch vor Ausbruch der Corona-Krise hat der Bundesrat seine Botschaft für die künftige Agrarpolitik verabschiedet. Daniel Weber macht deutlich, dass diese AP22+ auch ohne die jetzigen Ereignisse ein «Totalversagen» des Bundesamtes für Landwirtschaft sei. Die Vorlage komme «komplett politisiert» daher und sei voller Veränderungen, die keine Verbesserungen brächten. Zudem würde mit ihr der Selbstversorgungsgrad nochmals deutlich sinken.
Aber Weber ist zuversichtlicher gestimmt als auch schon: «Grundsätzlich sind wir mit der Landwirtschaft wieder dort, wo wir hingehörten. Wir sind ein Teil der Gesellschaft, wir sind ein Teil der Lösung, und wir sind nicht das einzige Problem.» Und wohin soll es gehen? «Im Ganzen hätte ich gerne mehr Freiheiten», sagt Norbert Fischer und macht sich auf in Richtung Stall. Es ist Zeit zum Melken.