Dann versanken die Gipfel zum letzten Mal im Licht und zum ersten Mal seit Tagen in diesem zu Ende gehenden September 1899. Da waren an allem zehrende Winde, durchdringende Kälte und Schneestürme oben auf dem Schafberg, der 2731 Meter in den Himmel ragt und auf dem eine kleine Hütte aus Stein immer noch steht, in der der Maler Giovanni Segantini auf der Suche nach einem Licht war, in dem Unvergänglichkeit schien und der Gott allen Lebens. Das Bild, das er vollenden wollte da oben, wo die Welt den Himmel berührt, war das letzte seines Triptychons über den ewigen Zauber der Berge und in deren Licht und Schatten kraxelnder Menschen; er malte das Sein.
Als die Sonne am 28. September, einem Donnerstag, durch das Wolkendickicht des Oberengadins brach, wachte Segantini kurz auf. Seine Frau war bei ihm, die auf dem Weg zu ihrer todkranken Mutter gewesen und umgekehrt war, als ihr in ihrem Unterwegs zum Sterben eilig mitgeteilt wurde, dass ihr Mann oben auf dem Schafberg lag und zu krank war, um im Tal vielleicht gerettet werden zu können. Sein ältester Sohn Gottardo war jene Wegwindungen von Pontresina her hinaufgestiegen, die seine jüngeren Brüder Alberto und Mario hinuntergelaufen waren, um den Arzt zu holen, und die jetzt, zusammen mit ihrer Schwester Bianca, in einem Hotel bangend warteten und die Zeit mit dem Erzählen glücklicher Erinnerungen überbrückten. «Weisst du noch?»
Segantini erwachte aus seinem Morphinschlaf, als das Licht zurückkam in die Welt. Gottardo stand an seinem Bett, der Arzt, seine Frau Bice und Baba, die den Segantinis den Haushalt führte, ihm Modell und gleichzeitig die beste Freundin seiner Frau Bice war und zur Familie gehörte. Stärker als die Hoffnung lebte das Licht an jenem Abend, das sich wie ein Zauber über all die Täler, Gletscher und Berggipfel legte.
Ganz unten im Tal schimmerten die Seen wie flüssiges Gold, der St. Moritzersee, der Silvaplanersee und der Silsersee, und unerreichbar weit am allerletzten Ufer und noch ein wenig dahinter lag Maloja, auf dessen Erde er – ein Leben lang ein Staatenloser – zu Hause war, wenn er nicht seine Heimat bewohnte, die Welt des Lichts. «Ich habe», sagte er einmal, «vom Berg oben im Tal Menschen gesehen, und sie waren so klein, und ich war gross.»
«Schiebt mein Bett ans Fenster», sagte Segantini mit einer Stimme, in der das Leben den Ton verlor, «ich möchte meine Berge sehen.» Er sah sie zum letzten Mal, tauchte in ihr Licht, versank noch einmal in allem, was sein Leben gewesen war, in der Liebe zu seiner Frau, die ihm ein Fels war, ein Veilchen, ein Licht unterhalb der Berggipfel. Dann fiel er zurück in das Schummern und die Schwerelosigkeit einer Morphiumwelt, ging unter oder auf im ewigen Dunkel oder im ewigen Licht. Er war 41 Jahre alt und an einer Bauchfellentzündung gestorben.
122 Jahre später wird es gerade Abend in Maloja. Es ist August, der Himmel wie unermesslich, und nicht mehr als die Vergänglichkeit eines Tages flirrt in der Luft. Die letzten Sonnenstrahlen werfen ihr Licht auf den etwas oberhalb der Hauptstrasse gelegenen, malerischen Friedhof, die allerletzte Heimat der Segantinis im Licht und im Schatten des Piz de la Margna, nur ein paar Schritte zum Chalet Kuoni, in dem die Familie Segantini das Leben feierte und gelegentlich an ihm verzweifelte. Zwei Inschriften stehen über dem Familiengrab: «In der Nähe und der Ferne, auf der Erde und im Himmel, vereint im Leben und im Tod, jetzt und immer.» Und, über dem Grab von Giovanni und Bice: «Kunst und Liebe besiegen die Zeit.»
Ragnhild Segantini lebt im Chalet, manchmal auch ihre Tochter Diana mit ihrem Mann und ihren Kindern, wenn Ferien sind, wie jetzt im August. Ragnhild verbringt fast ihr ganzes, Diana einen Teil ihres Lebens damit, das Verblassen des Lichts von Giovanni im Mahlwerk der Zeit zu besiegen, jenem europäischen Malpionier, den man heute als Jahrhundertmaler bezeichnen würde und von dem Beuys sagte, seine Malerei sei «der Grundversuch eines neuen Spiritualismus». Seine Staffelei steht auf derselben Höhe wie jene von Cézanne, Gauguin oder van Gogh.
Segantinis Erben öffnen die Tür zum Chalet und zur Rotunde, die Giovanni bauen liess, als er davon ausging, dass er an der Weltausstellung in Paris sein Panorama des Engadins würde zeigen können, eine Bergwelt-Welt aus sieben Bildern, mit dem Alpentriptychon fing er an. Es war die Zeit, als der Maler ins Scheinwerferlicht der Welt getreten war, er war eines der hellsten Lichter in der Malerei, und seine Zukunft schien fast so grenzenlos wie einer seiner Himmel. Aus dem Panorama wurde nichts, zuerst ging das Geld aus, dann sein Leben.
Ragnhild ist Norwegerin und die Stieftochter von Gottardo. Sie hat dessen Sohn Pietro geheiratet und steht an der Tür zur Rotunde in einem eleganten Kleid, das sie aussehen lässt wie eine blonde Königin aus Persien, und sagt: «Damaskus», und es klingt wie eine unvergessliche Liebe. Die Rotunde ist ein Irgendwas zwischen Museum und Atelier, voller von der Zeit vergessener Kunst und Krimskrams und Zeugs.
An den Wänden hängen Bilder von Giovannis Söhnen Gottardo und Mario, Briefe, die Giovanni an seinen Schüler und Freund Giovanni Giacometti geschrieben hat, Cuno Amiet, auch ein Freund, ist gegenwärtig. Die Rotunde ist so fern des Weltenlaufs, dass man im Grunde damit rechnet, dass Giovanni auftaucht.
Eine kleine Öffnung führt in das Chalet und in den Salon, der offenbar «Samurai-Wohnzimmer» genannt wird. Giovanni Segantini sammelte Samurai-Rüstungen und Schwerter. Vielleicht sah er sich so, als Bildkämpfer und Kämpferkünstler voller Ideale und Ehre und einem Kodex. Die Schwerter sind nicht mehr da, ein Gläubiger von Segantini soll sie mitgenommen haben, als Giovanni wieder einmal seine Rechnungen nicht bezahlen konnte.
Die Bücher sind da, aus denen Bice lange ihrem Mann vorgelesen hat, weil Giovanni mit sieben Jahren seiner Kindheit beraubt worden war und erst viel später lesen und schreiben lernte. Nicht nur die Bücher und die Möbel und die Bilder haben in einer Nische der Zeitlosigkeit überdauert, auch der Geist, der unbeirrt durch alles hindurch zu wabern scheint. Nirgends liegt jener Staub, der sich über vergessene Leben legt, überall leben unverlierbare Gestorbene.
Eine Tür führt zum Bugatti-Salon, zum Esszimmer, das im Grunde ein unsterbliches Design-Museum ist. Die Stühle stammen von Carlo Bugatti, dem Möbeldesigner und Bruder von Bice, sie sehen aus, als ob sie für den langgezogenen Pharao Echnaton konzipiert worden wären. Hier sassen sie alle, die Maler, die Schriftsteller, die Galeristen, die Prominenz, die grosszügigen Gläubiger auch. So üppig, wie Segantini Licht malen konnte, konnte er auch Geld ausgeben.
Seit ein paar Jahren haben die Segantinis das Chalet ein Stück weit geöffnet für all jene, deren Leben vom Lichterkosmos Giovannis beschienen werden; Segantini unlimited – klein, fein, selektiv. Für 300 Franken bekommt man das Paket, eine Führung und ein sehr angenehmes, dreigängiges Dinner und Wein und die Gastfreundschaft von Ragnhild und Diana und vor allem Geschichten, die sich in einem drin breitmachen wie Bilder, die lachen können und weinen auch.
Man sitzt bei Kerzenschein und dem Licht von Gottardo, seinen kunstvollen Lampen aus Muranoglas, und einmal steht Ragnhild auf, holt einen Champagnerkelch aus Muranoglas mit dem Monogramm von Giovanni darauf, und man bekommt eine Ahnung, weshalb der Maler ebenso auf der Suche nach Geld war wie nach Licht. Immer wieder zog die Familie weiter, auf der Flucht vor Gläubigern und den Behörden, die sie gängelten, weil sie Staatenlose waren; von Italien in die Schweiz, nach Savognin, dann über den Julier nach Maloja, wo sich die Lage nach Jahren etwas beruhigte und die Familie sich ein Winterdomizil im bergellischen Soglio leisten konnte.
Vielleicht ist Tragik der Preis des Genialen, und wenn dem so ist, erklärt dies ein wenig das Schicksal der Segantinis. Jenes von Mario, dem jüngsten Sohn, dem talentiertesten, wie Ragnhild erzählt, ein empfindsamer Abenteurer des Lebens und des Geistes war er, ein Filou auch. Eine Zeitlang verkaufte er von ihm nachgemalte Werke seines Vaters und musste dafür kurz ins Gefängnis. Er starb wie sein Vater dort, wo der Himmel immer näherkommt, es war Krieg, 1916, Mario war Pilot in D’Annunzios Fliegerstaffel und stürzte ab. Man brachte den Halbtoten nach St. Moritz, wo ihn derselbe Arzt verlor, der schon Giovanni auf dem Schafberg verloren hatte.
Oder Alberto, auch ein Sohn, der nach England zog, irgendwas mit Rennpferden machte und verschwand, aber wieder auftauchte zum Sterben, wie Pietro, der Mann von Ragnhild, ein bekannter Arzt und Alpinist, der nach einem persönlichen Schicksalsschlag in Zürich kurz von der Bildfläche verschwand und dann tot in Sils aufgefunden wurde. So versickert die Zeit im Bugatti-Salon zu einem Moment wie ohne sie, das Licht erhellt, es flackert, es wirft Schatten, aber nie, nie geht es aus.
ANGEBOT
Giovanni Segantini privat: Sie werden von einem Mitglied der Familie Segantini durch das Atelier des Künstlers geführt. Nach dem privaten Rundgang durch die Ausstellung geniessen Sie das Dinner im Bugatti-Speisesaal des Privathauses von Giovanni Segantini. Fr. 300.– pro Person.
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