Félix Vallotton, Der Raub der Europa, 1908 –

Das Mythische ist hin und wieder Hüter des Prophetischen. Da entführt der allmächtige Zeus, der Diktator der Götterwelt, die wehrlose Europa. Aus Liebe, aus Geilheit, aus Machtlust, es ist nicht ganz klar. Machtlos ist die phönizische Prinzessin gegenüber Zeus’ Stärke, seiner Gewalt. Sie wird zu seinem Spielball, sie verliert ihre Freiheit, die Möglichkeit der Selbstbestimmung auch. Sie kämpft nicht, sie hat sich aufgegeben, sie gibt sich hin in ihr Schicksal, in Kreta als Zeus’ willfährige Frau zu darben.

Es gab eine Zeit, da war Europa stark und machtvoll, und kein Zeus der Welt hätte die Kraft aufgebracht, es zu rauben, zu verschleppen und zu unterdrücken, aber das ist lange her. Dieser Tage besitzt Europa wieder kaum mehr die Energie, sich selbst zu unterhalten, zu sehr hat es sich verloren. Es zeugt nicht mehr, es onaniert bloss noch. Zu lange hat es sich selbstverliebt im Spiegel betrachtet und geträumt, in Selbstgefälligkeit überlegt, welches Kleid es anziehen, welchen Schmuck es anlegen und wie es seine Haare machen soll. So lange, dass es darüber so schwach und wehrlos geworden ist, dass es jederzeit von selbst zerbrechen, jederzeit wieder geraubt oder gar vergewaltigt werden könnte.

Es treibt dahin als verlorener Kontinent, der nur noch so tut, als ob der Wind seine Segel blähen und er Fahrt machen würde auf dem Meer der Geschichte. Und wer weiss, vielleicht steigt ein neuer Zeus aus den Tiefen, packt es, und es hält sich fest an seinen Hörnern, aus Verzweiflung und Unvermögen, weil es sich selbst nicht mehr halten kann.

Félix Vallotton (1865–1925), ein Lausanner, der in Paris seine Heimat fand, war nur einer von vielen, die diesen Mythos ins Bild setzten – jenen vom Werden und Vergehen, von Macht und Ohnmacht und von Aufstieg und Fall.