Jean-Honoré Fragonard, Lesendes junges Mädchen, 1776–1850 – Die Geheimnisse des Seins finden ihre Geschichten in Büchern, die meisten jedenfalls. In jedem Buch findet man Worte über sich selbst, seinen seelischen Nukleus, nicht nur in Romanen und Novellen, sogar in Sachbüchern über Hydraulik etwa lernen und erfahren wir etwas über die Rätsel in uns.

Beinahe nichts anderes schuf den Menschen so sehr wie die Sprache und die Worte, mit denen er seinen Welten Ausdruck gab. Narrative verbanden ihn schon immer; mit der Welt, den andern, mit sich selbst. Die Erzählungen über all jenes uns bewusste und unbewusste schufen unsere Bilder von allem und erweiterten sie, Satz für Satz, Wort für Wort.

Lesen verbindet unsere beiden wesentlichen Welten, jene in und jene ausserhalb von uns, die Worte lassen uns schweben von einer zur anderen. Es tröstet uns über die Verluste, die wir in der einen oder andern erleiden, es steigert das Glück, in der einen oder andern zu sein. Es gibt, so scheint es gelegentlich, keine glücklichere Symbiose mit all dem Unerklärlichen, Unfassbaren und Unbekannten, als wenn wir eintauchen in die Welt jener Geschichten, die uns begleiten und tragen.

Vielleicht hat Jean-Honoré Fragonard (1772–1806) daran gedacht, als er das lesende Mädchen malte in ihrer existenziellen Versunkenheit im fast unerschöpflichen Kosmos der Worte. Und fast ist man geneigt zu behaupten, nur wer liest, kann sich selbst erzählen, aber das stimmt nicht; nur wer sich erzählt, kann sich selbst lesen.

Es soll, so liest man, so viel gelesen werden wie noch nie, und noch nie war die Welt so voller Worte wie in unseren Zeiten. Aber das trügt, weil es bloss noch Worte sind, kurze Sätze allenfalls, die ohne grosse Geschichte erscheinen in einer virtuellen Welt, und die, kaum sind sie getippt, nicht wie eine Welle sich über einen Ozean bewegen, sondern sogleich absinken in einen Schlund des Vergessens.