Es ist mehr als ein Roman, den Sibylle Berg vorlegt. Zumindest für ihre zahlreichen Fans. Dem Werk und der Autorin wird prophetische Kraft zugeschrieben. «Ein Buch wie ein Sprengsatz», titelte die Zeit, und in sozialen Medien, wo sich die Berg-Fans austauschen, ist gar von einer neuen «Bibel» die Rede, von einem Werk, so wichtig wie Orwells «1984». Sibylle Berg beschreibt in «GRM» den Zustand unserer Gesellschaft. Und der ist ziemlich mies. Genauer: total kaputt. Die grosse Masse an Menschen vegetiert nur noch willenlos im eigenen Dreck, manipuliert von den Reichen und Mächtigen, alles Rechtspopulisten, alles Männer.

In den drei deutschsprachigen Ländern steht das schwere, 630 Seiten umfassende Werk in den Top Ten der Bestsellerliste, die Autorin wird von ihren Fans fast kultisch verehrt. Ihre Lesungen erinnern an Popkonzerte und sind stets ausverkauft.

Worum geht es? Schauplatz ist eine heruntergekommene Industriestadt in Grossbritannien, weil hier gemäss Autorin das neoliberale Experiment am weitesten fortgeschritten ist. Die Menschen sind durch die Privatisierungswelle alle verarmt und verblödet und werden mit Fussball und anderer Unterhaltung ruhiggestellt. Die Kinder in diesem Umfeld sind dem sexuellen Missbrauch, der Gewalt und der emotionalen Kälte ihrer alkohol- und drogenabhängigen Eltern ausgesetzt. Vier von ihnen – sie stehen im Zentrum des Romans – tun sich zusammen und versuchen sich zu wehren. Einerseits mit Protestmusik, dem sogenannten Grime – eine Mischung aus Punk und Rap –, der dem Buch den Titel («GRM») verleiht. Andererseits, indem sie als Programmierer gegen den Überwachungsstaat zurückschlagen.

In dieser Welt sind die Leute alle degeneriert, haben Hobbys wie «zu Cross-dressing- Fotos von Nazis onanieren», für Sex gibt es als Kinder geformte Sex-Roboter, die von den aggressiven Männern nach Gebrauch kaputtgeschlagen werden. Um Hass und Gewalt zu zügeln, wird in dem total überwachten Staat nach chinesischem Vorbild ein soziales Punktesystem eingeführt: Je nach Verhalten werden automatisch Punkte hinzugefügt oder abgezogen. Die Anzahl Punkte entscheidet über die Höhe des wegen der enormen Arbeitslosigkeit eingeführten Grundeinkommens.

Krieg der Reichen gegen die Armen

Mit welcher Kraft, welcher Wut Sibylle Berg das Ende der freien Welt beschreibt, ist durchaus beeindruckend. Sprachlich eine Wucht.Und was die zunehmende Totalüberwachung betrifft, da hat sie durchaus einen Punkt. Allerdings bedient sie ihre Klientel zuweilen etwas gar offensichtlich: Die den Reichen zudienende Regierung besteht aus lauter «pöbelnden populistischen Nazis», die üblichen Opfergruppen – Frauen, Homosexuelle, Ausländer – werden systematisch unterdrückt. Schuld am Übel sind ausschliesslich Männer, die Herrscher über das System, die die Opfer erfolgreich gegeneinander aufhetzen. «Fast alle Frauen [. . .] himmelten Männer und Jungs an und verachteten Frauen. Vermutlich schämten sie sich, zu den absoluten Verlierern zu gehören, denn unter den Frauen standen nur noch ausländische Frauen.»

Die einfachen Leute sind alle strohdumm, einfach steuerbar durch Fake News und Desinformation. «Die beste Investition seit langem war die direkte Demokratie, die Thomes Vater mit der Hilfe diverser Lobbygruppen, Fake-News-Agenturen und Hacker durchgesetzt hat. Die Menschen zu lenken, war so unglaublich leicht. Wenn man über die nötigen Mittel verfügt.» Dass Leute von sich aus, vielleicht sogar mit gutem Grund für den Brexit oder für einen konservativen Politiker gestimmt haben: ausgeschlossen.

In einem Interview erklärte Sibylle Berg, es herrsche «ein Krieg der Reichen gegen die Armen», das habe schon Warren Buffett gesagt. Wenn ein Milliardär das sagt, dann muss es ja stimmen. Die weltweite Armutsquote ist zwar in den letzten Jahrzehnten nachweislich spektakulär gesunken – doch wen interessieren schon solche Details?

Im Buch heisst es, das Vertrauen in die Demokratie werde mit Mitteln der Demokratie «pulverisiert». Und zwar, indem man «absolute Volltrottel in hohe Positionen bringt, Bürgerkriege initiiert, die sogenannten Guten gegen die sogenannten Bösen aufhetzt, mit den Mitteln des Nudgings, der Manipulation ihrer verdammten Gehirne durch Endgeräte, soziale Medien, falsche Informationen nutzt, wenn man die Presse komplett unglaubwürdig macht, wenn man Brutalität, Nazis, Dummheit und Faschismus fördert, kurz – ein irrsinniges Chaos anrichtet [. . . ] ». Für die Autorin ist klar: «Ein gespaltenes Volk ist ein lenkbares Volk. Es sucht nach Feinden und einem Führer.»

Sibylle Berg lebt seit vielen Jahren in Zürich, die gebürtige Deutsche ist mittlerweile Schweizerin. Offensichtlich glaubt sie selber nicht an das, was sie schreibt. Kürzlich sagte sie über ihr Engagement beim Referendum gegen Versicherungsdetektive: «Es war eine grossartige Erfahrung, zu erleben, wie gut unsere Demokratie funktioniert. Mich haben all die Menschen und die vielen Organisationen, die unermüdlich mit uns kämpften, sehr glücklich gemacht, hier leben zu dürfen.» Glücklich gemacht haben dürfte sie auch, dass die Stadt Zürich und Pro Helvetia ihren Roman mit insgesamt 73 000 Franken unterstützt haben.

Im Buch allerdings ist die Demokratie nichts als eine Farce, ein Instrument der Manipulation, wo Abweichler brutal abgestraft werden.

Aufgewiegelte Massen

Dass Sibylle Berg mit ihren Thesen im urbanen Milieu begeisternde Zustimmung erhält, erstaunt nicht. Sehr wohl aber, dass die Verschwörungstheorien, die sie dabei verbreitet, einfach ignoriert werden. So suggeriert sie, dass der Terror vom Westen inszeniert sei, um die Massen gegen Fremde aufzuwiegeln und die Totalüberwachung durchzusetzen. «Was Menschen nicht begreifen, interessiert sie nicht. Sie interessieren sich für Terror. Darum finden in regelmässigen Abständen Angriffe irgendwelcher Fundamentalisten statt. Gerne lassen sich die Leute im Anschluss an solche Aktionen röntgen, nackt ausziehen und filmen, bevor sie ein Flugzeug besteigen», schreibt sie etwa. Der als Verschwörungstheoretiker verfemte Historiker Daniele Ganser würde dies nicht anders formulieren.

Auch zum Krieg in Syrien verbreitet Berg eine gewagte These: «Russland hatte vor einigen Jahren grosszügig Syrien bombardiert und damit die Zahl der fliehenden jungen Männer verfünffacht. Was hilfreich gewesen war. Inzwischen gibt es keinen demokratischen Staat mehr.»

Explosiver Cocktail

Berg zeigt in dem Buch nicht nur einen Hang zu Verschwörungstheorien, sondern auch zu einer Kategorisierung der Menschen nach ihrer Herkunft – voller Klischees, wenn nicht gar rassistisch: Die Russen sind alle reich und haben keinen Geschmack, die Chinesen kaufen alles auf, die Osteuropäer sind ausnahmslos ausgenutzte und verarmte Arbeiter, die aus Geldmangel nicht zurück in ihre Heimat zurückkehren können. Und selbst wenn sie könnten, sie wollen nicht, denn diese Länder sind völlig verkommen. Donald Trump bezeichnete arme Länder als «shithole countries», Sibylle Berg tut dasselbe mit anderen Worten.

Geradezu humoresk erscheint Bergs Beschreibung der alten britischen Oberschicht, die nebst den Armen vor allem Neureiche, Araber und Russen verachte. «Jemanden aus dieser Schicht zu begatten, war in Ordnung, wenn es in aller gegebenen Verschwiegenheit stattfand. Aber solche Leute heiratet man doch nicht. Der letzte öffentliche Skandal mit Lady Diana Spencer und ihrem Araber war allen noch in Erinnerung. Auch, wie man sich dieses Problems entledigt hatte.» Erneut eine Verschwörungstheorie, wie aus einem dubiosen Internet-Forum entnommen.

Ihren Fans scheint dies alles egal zu sein. Oder sie glauben selber an solche Verschwörungstheorien. Als Apokalyptikerin trifft Sibylle Berg den Zeitgeist perfekt: Ihr Buch ist ein Gemisch aus Greta Thunberg, Daniele Ganser und George Orwell – ein wahrlich explosiver Cocktail, an dem sich zurzeit ein ganzes Milieu berauscht.

 

Sibylle Berg: GRM – Brainfuck. Kiepenheuer & Witsch. 634 S., Fr. 36.90