Hin und wieder bedaure ich, dass ich nicht überall sein konnte und ich nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, sondern in einem Irgendwo, an das ich mich nicht mal mehr erinnere, während am richtigen Ort ein Kapitel in der Erzählung der Ewigkeit geschrieben und einem Stern eine Stunde hinzugefügt wurde.

Meistens überkommt mich diese harmlose Schwermut, wenn der Abend und das Sein zu einem erlösenden Adagio wird, wenn ich Rotwein trinke und Musik höre. Ich lande immer bei den gleichen Liedern, schon jahrelang, ich werde ihrer nie überdrüssig. Ihre Faszination liegt darin, dass es Momente sind, in denen der Mensch über sich hinausgewachsen ist und ein wenig von dem bisschen Göttlichen in der Welt gestreichelt wurde.

Am 5. Februar 1981 wäre ich gerne in Kalifornien gewesen, im «Great Western Forum» nahe Los Angeles. Diana Ross gab dort ein Konzert, und am Ende spielte sie «Upside Down». Sie trug ein weisses, hochgeschlitzes Seidenkleid mit schmalen Schulterträgern und goldene Schuhe mit himmelhohen Absätzen. Nie sah sie besser aus. Am Rande der Bühne stand Michael Jackson, «mein Baby», wie sie ihn nannte, noch jung, noch nicht weissgespült, noch voller Leben und nicht voller Propofol.

Dann begann der unsterbliche Beat des Songs. Diana machte ein paar Schritte nach vorne, stellte sich hin, bückte sich, warf ihren Körper hin und her, ihren Kopf, sie lächelte und richtete sich auf und streckte die Hände gegen den Himmel, wo sie sich schon längst befand.

Michael bewegte sich im Halbschatten des Bühnenlichts völlig im Einklang, schnippte mit den Fingern, und Diana tat, was gute Göttinnen tun, lustvoll unerreichbar verführen, und dann rief sie, dass Michael auf die Bühne kommen soll. Er kam in engen Jeans, Westernboots und Baseball-Jacke, stellte sich hin und fing an zu tanzen, nur zwei, drei Schritte hin in eine andere Welt.

Am 6. März 1989 wäre ich gerne in Paris gewesen, im «Zénith», es war das letzte Konzert von Serge Gainsbourg, und das letzte Lied, das er sang, war «Mon Légionnaire», dieses Chanson über verlorene Liebe und unerwiderte Leidenschaft. Serge stand da, hellblaue Jeans, hellblaues Jeanshemd mit hochgestelltem Kragen, seine grossen Augen kleiner als die Tränensäcke darunter, seine Gauloises und ein Feuerzeug lagen auf einem Lautsprecher.

Und dann fing er an zu singen mit einer Stimme, in der die Kraft einen verzweifelten Kampf gegen ihren Abgesang führt, und er ging als Mann, der geschlagen, aber, noch, nicht endgültig vernichtet worden war, und die Band ging in den Instrumentalteil über, und bevor einer der besten Saxophoneinsätze der Welt an der Reihe war, lief er winkend von der Bühne und drehte sich noch einmal um und versuchte zu lächeln. Zwei qualvolle Jahre später verliess er die Bühne des Lebens.

Am 6. November 2010 wäre ich gerne in Leverkusen gewesen an den Jazztagen. Paco de Lucia spielte dort, und Paco war mindestens der Sohn eines Gitarrengottes, und wenn er sein Instrument zum Klingen brachte, war es wie die Geburt eines neuen Universums, das nur Energie und Harmonie kennt und keine Vergänglichkeit. Zusammen mit Al Di Meola spielte er «Mediterranean Sundance». Da waren zwei Gitarren, die einen ganzen musikalischen Ozean schafften; es war der ewige Höhepunkt der Kunst des Gitarrenspiels, nie mehr werden zwei Gitarren je wieder so zu einer der schönsten Wellen der Welt zusammenfliessen.

 

Am 24. Oktober 1999 wäre ich gerne in Berlin gewesen, am Gendarmenmarkt im Konzerthaus, es wurde gerade nach langen Renovierungsarbeiten wiedereröffnet. Edda Moser sang die Arie «Königin der Nacht» aus Mozarts Zauberflöte. Niemand singt diese schwierigste aller Opernarien mit mehr Souplesse als Edda, sie lässt das Unmöglich anmutende so leicht schweben wie eine Feder im Wind. Edda war 1999 schon im Ruhestand, ihre Stimme geriet immer mehr ins Ungehörte, und sie stand da, und sie wusste, das hier ist ihr letztes Scheinwerferlicht, und sie schuf einen Gesang, der für immer im Universum mitschwingen wird.

Ich legte die Kopfhörer hin, hörte ein Rauschen im Ohr und all die Melodien im Nachhall, die Reise war zu ende, und mir schien, dass es keine falschen Orte geben kann und der richtige immer der ist, an dem man sich gerade befindet.