Peter Burke: Giganten der Gelehrsamkeit. Die Geschichte der Universalgenies. Aus dem Englischen von Matthias Wolf und Ursula Wulfekamp. Wagenbach. 320 S., Fr. 44.90

 

Am 11. Juli 1791, knapp zwei Jahre nach Beginn der Französischen Revolution und dem Sturm auf die Bastille, wurden die Gebeine Voltaires in den ehemals als Kirche für die heilige Genoveva geplanten Kuppelbau des Architekten Jacques-Germain Soufflot überführt. Das Panthéon im fünften Pariser Arrondissement – mit der Aufschrift «Aux grands hommes, la patrie reconnaissante» – sollte fortan als nationale Ehrengrablege und Ruhmeshalle dienen, woran auch gelegentliche Versuche einer neuerlichen Umwidmung während des 19. Jahrhunderts nichts änderten.

«Aux grands hommes», den grossen Männern: Die erste Frau, die wegen ihrer mit zwei Nobelpreisen – für Physik (1903) und Chemie (1911) – ausgezeichneten wissenschaftlichen Leistungen im Panthéon beigesetzt wurde, war übrigens am 21. April 1995, mehr als sechzig Jahre nach ihrem Tod, Marie Curie. Im Panthéon verkörperte sich bereits früh der Geniekult des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den Edgar Zilsel, ein heute leider weitgehend vergessener Wissenschaftshistoriker, der dem Wiener Kreis nahestand, 1918 als säkulare Religion analysiert hatte. Umso bemerkenswerter ist daher, dass Peter Burke in seiner enzyklopädischen Darstellung der Geschichte von Universalgelehrten kaum jemals den Ausdruck «Genie» verwendet hat; in Titel und Text der englischen Originalausgabe von 2020 spricht er zumeist vom «polymath».

 

Vom Einzelkämpfer zum Team

 

Was aber ist ein «polymath», abgeleitet aus dem altgriechischen «polymathes» (ein Mensch, der «viel gelernt hat»), was ist ein Universalgelehrter? In seiner Einleitung beschreibt Burke verschiedene Typen: Er nennt die «passiven» Universalgelehrten, die alles wissen, aber nichts produzieren, sondern allenfalls systematisieren (wie Francis Bacon oder Auguste Comte); die «selektiven» Universalgelehrten, die verschiedene ausgewählte Disziplinen beherrschen; die «seriellen» Universalgelehrten, die sich nacheinander einigen Fächern verschreiben, wobei er als Beispiel Joseph Needham erwähnt, der nach eigener Auskunft vom Biochemiker zum Historiker und danach zum Sinologen «mutierte»; schliesslich die «zentrifugalen« und «zentripetalen» Universalgelehrten, die Wissen akkumulieren, ohne sich um Zusammenhänge zu kümmern oder ein übergreifendes System anstreben.

Als programmatisches Ziel seiner kulturgeschichtlichen Untersuchungen bezeichnet Burke die «kollektive Biografie einer Gruppe von fünfhundert Einzelpersonen, die zwischen dem 15. und 21. Jahrhundert im Westen aktiv waren». Die Vorgeschichte in «Ost und West» wird zwar knapp auf fünfzehn Druckseiten rekapituliert, mit Seitenblicken auf die griechische und römische Antike, auf China und die islamische Welt sowie auf das europäische Früh- und Hochmittelalter. Doch eigentlich lässt Burke die Geschichte der «polymaths» in der Renaissance, zwischen 1400 und 1600, beginnen: mit den Künstlern und Ingenieuren, mit humanistischen Gelehrten wie Agricola, Erasmus, Pico della Mirandola, Agrippa von Nettesheim, Jean Bodin, Joseph Scaliger, John Dee oder Conrad Gessner; als Prototyp des «Renaissance-Menschen» wird wenig überraschend Leonardo da Vinci charakterisiert.

Dem Kapitel über die Renaissance folgen weitere Hauptteile zu den «Monstern der Gelehrsamkeit» (nach einem Ausdruck von Herman Boerhaave) zwischen 1600 und 1700, zu den Aufklärern und «hommes de lettres» zwischen 1700 und 1850, zu den Universalgelehrten im kälteren Klima der Nationalstaaten und der neu strukturierten Universitäten. In verschiedenen Unterkapiteln zur «Renaissance-Frau», zu den «femmes de lettres» und den weiblichen «polymaths» vermeidet Burke die Einseitigkeiten des Panthéon und der Genie-Religion, bevor er sich dann der Gegenwart zuwendet, dem Zeitalter der Spezialisierungen und häufig fast hilflos beschworenen Interdisziplinarität.

Der Universalgelehrte wird nun als «Einzelkämpfer» abgelöst von Instituten, Netzwerken und Forschungszentren, an denen disziplinenübergreifende Fragestellungen von Teams bearbeitet werden. Burke spricht daher nicht mehr von individuellen Biografien, sondern zunehmend von «Gruppenporträts». Und er beschliesst seine überaus lesenswerte, nicht nur informative, sondern auch unterhaltsame Darstellung mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass die «polymaths» selbst im Zeitalter der Digitalisierung und einer historisch beispiellosen Verfügbarkeit von Quellen und Wissen nicht verschwinden werden.

Es wäre verfrüht, so behauptet Burke, ein «Klagelied» auf den Untergang dieser besonderen intellektuellen «Spezies» anzustimmen; denn gerade eine Ära der «Hyperspezialisierung» brauche auch Generalisten, die Fragen und Thesen zueinander in Beziehung setzen können, «universale Leüte», wie sie Leibniz bereits 1678 forderte.