Das Video zeigt zwei Frauen, die eng aneinandergepresst tanzen. Die Aufnahme ist nicht besonders anzüglich. So sieht es jedes Wochenende in unzähligen Klubs aus. Aber die Umstände haben sich geändert. Vielleicht sind solche Bilder in Zukunft bereits zu viel?

Anna Rosenwasser scheint das zu befürchten. Achtzehn Stunden nach der Publikation des Videos wird sie als Nationalrätin vereidigt werden. «Manche sagen mir jetzt, ich müsse aufpassen, was ich poste», schreibt sie zu dem kurzen Clip auf Instagram. Das sei vielleicht so, «aber meine queer joy werde ich nie wieder verstecken». Denn was als seriös oder unseriös wahrgenommen werde, sei «patriarchal geprägt».

 

«Büsis, ich bin gewählt»

Nur einen Tag später steht Rosenwasser erstmals im Nationalratssaal. Aus ihrer Sicht vermutlich mitten im fleischgewordenen Patriarchat, umgeben von mittelalterlichen bis älteren Herren, in einem Meer von dunklen Anzügen und Krawatten. Die freischaffende Journalistin und Queer-Aktivistin ist auf einen Schlag der bunteste Farbtupfer im Parlament.

Ob sie das überhaupt sein will: Mit der Frage tat sich die 33-Jährige zunächst schwer. Bei den Wahlen im Oktober startete sie auf Platz zwanzig der Zürcher SP-Liste. Mit über 92 000 Stimmen landete sie auf Platz acht. «Büsis, ich bin gewählt», teilte sie danach ihren Followern in den sozialen Medien mit. Die Überraschung wirkte nicht gespielt.

Was dann folgte, war erwachsener und professioneller als das Verhalten manch anderer, die scheinbar aus dem Nichts gewählt wurden. Rosenwasser wollte zuerst einmal in Ruhe nachdenken, Gespräche führen und herausfinden, was man im Nationalrat eigentlich tut. Nach zwei Tagen nahm sie die Wahl an.

Dabei hatte die Neo-Nationalrätin ursprünglich nur kandidiert, um dem Abfallberg den Kampf anzusagen. Das erklärte sie jedenfalls sinngemäss in einem Interview mit dem Nachrichtenportal Watson.ch: «Ich wollte vor allem bewirken, dass weniger Wahlcouverts im Altpapier landen.» Sie sah sich als Alternative für frustrierte Nichtwähler aus ihren Kreisen.

Anna Rosenwasser ist nicht die erste Aktivistin in der Bundesversammlung, gerade in linken Kreisen. SP-Nationalrätin Tamara Funiciello verbrannte einst ihren Büstenhalter. Ihren Amtskollegen Fabian Molina zog es zu unbewilligten Demonstrationen. Der spätere SP-Co-Präsident Cédric Wermuth rauchte vor den Kameras einen Joint. Aber sie alle trieben ihre politische Karriere parallel dazu in geordneten Parteistrukturen voran.

Rosenwasser hingegen kann man sich nur schwer an langen Tischen an einer Delegiertenversammlung vorstellen, wo sie sich Rede um Rede anhört, um zuletzt ein Kärtchen hochzuhalten. Nun sitzt sie für die nächsten vier Jahre an einem schmalen Pult, vor sich Abstimmungsknöpfe, und geredet wird hier noch pausenloser. Vermutlich wird sie damit selbst mehr zu kämpfen haben als die anderen Parlamentarier mit ihr.

War ihre Wahl wirklich so überraschend? Laut einer Studie aus dem Sommer 2023 zählen sich in der Schweiz 13 Prozent der Bevölkerung zum Kreis der LGBTQ-Personen. Anna Rosenwasser ist seit Jahren ihr Sprachrohr. Sie gründete in ihrer einstigen Heimat Schaffhausen eine entsprechende Jugendgruppe und war Co-Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz. In ihren Kolumnen geht es fast immer um Geschlechterfragen, die eigene Identität und alte weisse Männer, die von alldem nichts wissen wollen. Wer sich selbst als «queer» und in irgendeiner Weise diskriminiert sieht, fühlt sich von Rosenwasser verstanden – und hat sie wohl auch gewählt.

 

Real- oder Systempolitikerin?

In Obwalden hätte das kaum funktioniert. In Zürich hingegen war der Boden fruchtbar. Das heisst aber auch: Anna Rosenwasser muss im neuen Amt bleiben, wer sie ist. Das ist die Erwartungshaltung ihrer Wähler. «Realste Person im Nationalrat», schreibt jemand zum erwähnten Tanz-Clip. «Niemals nie für Echtheit verstecken» ein anderer. Bereits gehen konkrete Vorstoss-Ideen ein: Sie solle sich für ein «Verbot für Homo-Heilung» einsetzen.

«Aufpassen, was ich poste», muss die neue SP-Nationalrätin nicht. Im Gegenteil: Wird aus der Aktivistin eine angepasste und zurückhaltende Systempolitikerin, verglüht ihr Stern schnell. «Queer joy» zu zeigen, ist in ihrem Fall kein Hindernis. Sondern sogar die Voraussetzung für die Wiederwahl in vier Jahren.