Lemminge vermehren sich in Skandinavien alle drei bis vier Jahre massenhaft. Dann wird die Bergheide für die Eisfüchse zum Schlaraffenland. Um vom Überfluss zu profitieren, haben sie jetzt bis zu einem Dutzend Junge im Nest. In lemmingarmen Jahren ziehen sie dagegen nur wenige Kleine oder überhaupt keinen Nachwuchs auf. Wo die Gejagten in regelmässigem Turnus in grosser Zahl auftreten, ist die Familienplanung der Jäger oftmals exakt mit dem Nahrungsüberfluss synchronisiert. Die Natur kennt aber einen Zahlentrick, mit dem sie einige Beutetiere dem Kalkül der Jäger entzieht.

Im Osten der USA lebt die Gattung der Singzikade Magicicada mit mehreren Arten. Sie leben als Larven im Boden und ernähren sich von den Wurzeln von Sträuchern und Laubbäumen. Drei Arten tauchen im Frühling, wenn der Boden etwa 18 Grad warm geworden ist, nach genau siebzehn Jahren aus dem Untergrund auf und saugen sich an Blättern und Zweigen fest. Die vier anderen Arten erscheinen schon nach dreizehn Jahren an der Erdoberfläche. Mit einem Trommelorgan im Hinterleib locken die Männchen die Weibchen zur Begattung. Der Name «Singzikade» ist insofern niedlich, als mit 100 Dezibel schon das einzelne Männchen wie ein Rasenmäher schrillt.

Nach der Paarung sterben die Männchen. Die Weibchen bohren mit einem Legestachel Ritzen in die Rinde von Zweigen und legen ihre Eier in die Nester. Im Spätsommer schlüpft die Brut aus ihrem ersten Larvenstadium, fällt zu Boden und saugt sich im Untergrund für die nächsten dreizehn oder siebzehn Jahren an Wurzeln fest.

 

2024 mit seltener Superinvasion

Die Insekten bilden, verteilt über die einzelnen Gliedstaaten, gigantische Populationen mit mehreren Milliarden Einzeltieren und einer eigenen Periodizität. Man bezeichnet die einzelnen Bruten entsprechend ihrer geografischen Heimat und dem zeitlichen Erscheinen mit römischen Ziffern. Die Bruten mit einem siebzehnjährigen Zyklus bevölkern die nordöstlichen Regionen der USA, die dreizehnjährigen den Südosten. Was nun in den jetzigen Frühjahrs- und Sommerwochen passiert, ereignete sich das letzte Mal im Jahr 1803: Die gigantische «Grosse Südliche Brut XIX» erschien das letzte Mal im Jahr 2011 und war nun nach dreizehn Jahren wieder fällig, während die «Nördliche Illinois Brut XIII» als siebzehnjährige nach 2007 ebenfalls an der Reihe war. Diese seltene Gleichzeitigkeit ist umso beeindruckender, als sich die beiden Verbreitungsgebiete zum Teil überlappen. Insgesamt dürften jetzt über eine Billion (mehr als das Hundertfache der Erdbevölkerung) Zikaden die Ohren und Nasen der Amerikaner strapazieren, denn die toten Zikaden verrotten am Boden zu einer übelriechenden Masse. Für die Flora ist die Zikadeninvasion indes kein Problem, denn die Tiere verursachen an den Pflanzen nur geringe Schäden und geben als Dünger den Wurzeln wieder zurück, was sie vorher als Larven im Boden konsumierten.

Zahlenfreunden fallen die 13 und die 17 der Zikadenperioden auf: Beides sind Primzahlen, also Zahlen, die sich nur durch sich selbst und durch eins teilen lassen. Dass sich die Zikaden im Primzahlentakt zeigen, ist kein Zufall. Ihre potenziellen Feinde, vor allem Vögel, leben meist nur zwei bis fünf Jahre. Würde ein Zikadenvolk seinen Massen-Honeymoon anstatt alle dreizehn Jahre etwa in einem zwölfjährigen Zyklus abhalten, könnten die Vögel im Rhythmus von zwei oder vier Jahren besonders viel Nachwuchs produzieren und so nach zwölf Jahren vom ungewöhnlich grossen Nahrungsangebot profitieren. Die Primzahlen verunmöglichen aber jede kleinzahlige Synchronisation. Wenn nun die Vögel alle dreizehn oder siebzehn Jahre plötzlich das grosse Fressen vor den Schnäbeln haben, hatten sie keine Möglichkeit, sich mit zusätzlichem Nachwuchs auf den Zikadensegen vorzubereiten.

 

Herbert Cerutti ist Autor und Tierexperte.