Laura Mulvey oder Kunsttipp: Visual Pleasure and Narrative Cinema (1975).

Sie ist manchmal einsam, manchmal nicht, immer glamourös, strahlt von der Leinwand in den dunklen Kinosaal hinein. Ihre Haare. Das Paillettenkleid. Das volllippige Gesicht, die umrandeten Augen. Manchmal ist sie einfach nur passiv-träge, andere Male ist sie die Hauptfigur, ganz aktiv ist sie aber nie, und immer ist sie da, um grenzenlos beschaut zu werden: die schöne Frau im Film.

Wir kennen sie, die Femmes fatales und Diven aus Hollywood. In meinem Fall war es Grace Kelly in der Rolle der Lisa Fremont in Alfred Hitchcocks «Das Fenster zum Hof», die mir vermittelte, dass die Frau ein Spektakel an der Seite des Mannes ist. Jeden Tag kam sie in einem neuen herrlichen Kleid in die Wohnung des am Fenster sitzenden James Stewart, umgirrte und umflirrte ihn, brachte Essen und teure Dessous in einer winzigen Handtasche. Obwohl sie für die Handlung des Films kaum wichtig war – ein wegen eines Beinbruchs an den Stuhl gefesselter Mann beobachtet in den Hinterhöfen von Greenwich Village, New York, einen Mord –, wäre der Film ohne diese schöne Frau nicht derselbe gewesen. Wahrscheinlich hätte ich ihn nicht geschaut.

1975 schrieb die britische Regisseurin Laura Mulvey mit «Visual Pleasure and Narrative Cinema» den wohl wegweisendsten Aufsatz darüber, wie wir schauen, und was die Art, in der wir schauen, über den Stand der Geschlechterverhältnisse und die Stellung der Frau in westlichen Gesellschaften aussagt. Hierzu prägte sie den Begriff «male gaze», den «männlichen Blick», den wir, ob Mann oder Frau, automatisch und unbewusst vis-à-vis der Welt einnehmen.

Am Beispiel vom Film, besonders den Filmen Hitchcocks und dem französischen Kino der 1960er Jahre, erklärte Mulvey, dass über den männlichen Blick (heterosexuelle) Fantasien auf die Frau projiziert werden, die entsprechend ausschaut, entsprechend geht, spricht, dasitzt; und dass das Publikum, ob Mann oder Frau, diese Blickposition unbewusst einnimmt und so perpetuiert. Der männliche Blick, das sogenannte «skopische Blickregime» (vom griechischen «scopophilia», was «Schaulust» bedeutet), setzt die verdinglichte Frau als Subjekt voyeuristischer und sadistischer Fantasien des Patriarchats.

 

Was denkt Bardot?

Cineastische Momente zeigen allerdings immer wieder ein Aufbrechen der Kontrolle durch den männlichen heterosexuellen Blick. Denken wir an die Anfangsszene von Jean-Luc Godards Film «Le Mépris» (1963): Brigitte Bardot liegt nackt auf dem Bett. Daneben, angezogen und lässig auf den Ellbogen gestützt, Michel Piccoli. Träge klimpernde Musik. «Siehst du meine Füsse im Spiegel?», fragt sie ihn. «Ja», antwortet er. – «Sind sie nicht sehr hübsch?» – «Ja, sehr.» – «Liebst du auch meine Knie?» – «Ja, ich liebe deine Knie sehr.» – «Siehst du meinen Po im Spiegel?» – «Ja.» – «Denkst du, mein Po ist hübsch?» – «Ja, sehr.» – «Und meine Brüste, liebst du sie?» – «Ja, enorm.»

Cineastische Momente zeigen ein Aufbrechen der Kontrolle durch den männlichen heterosexuellen Blick.

Das Fragespiel geht weiter, mit dem Gesicht, dem Mund. Die Szene thematisiert und ironisiert das klassische Geschlechterverhalten im Film oder auf der Strasse. Ob sie es geniesst oder nicht: Die Frau, insbesondere, wenn sie attraktiv ist, wird angestarrt, wird unter dem Blick des Publikums, des Mannes oder der Frauen, die anderen Frauen eifersüchtig oder wohlwollend nachschauen, in einzelne begehrenswerte Körperteile zerlegt.

Nur, in «Le Mépris» ist es umgekehrt: Brigitte Bardot zwingt Piccoli, sie «männlich» anzuschauen. In der Folge entzieht sie sich ihm und seinem Blick und damit auch dem Blick des Zuschauers. Beide leben vorübergehend auf Capri in der Villa eines Filmproduzenten über dem Meer. Bardot strolcht allein auf der Insel herum, liegt am Strand, sitzt schweigsam am Tisch. Nie erfährt der Zuschauer, was sie denkt, ob sie überhaupt etwas denkt.

Die fehlende Gleichheit der Geschlechter im Film setzt sich bis heute fort, wird allerdings schwächer und schwächer. Bisher galt, dass unsere gesamte visuelle Umgebung, also nicht nur der Film, sondern Bilder in Zeitschriften, auf Werbeplakaten, in Comics und auf dem Laufsteg, den männlichen Blick, den Mulvey beschreibt, befördert und uns nahezu ohne Ausnahme in die Schauperspektive heterosexueller Männer zwingt.

Film und Bildkultur gehorchen, wie Mulvey schreibt, «dem Gesetz, das sie herstellt», das heisst, dass die geschlechtlichen Regeln der Gesellschaft dem vorangehen, was wir sehen: passive Weiblichkeit und aktive Männlichkeit. Manchmal aber, schrieb Mulvey in einem späteren Text, fühle sich die Frau dem übermaskulinen Blick, den sie beim Schauen eines Films einzunehmen gezwungen ist, auch entfremdet.

Mulveys Theorie, dass wir über den Film perpetuiert haben, Frauen so zu betrachten, wie es das Patriarchat tut, wurde und ist für die feministische Filmkritik ebenso wichtig wie Judith Butlers Geschlechtertheorie für die Kulturkritik. Keine (feministische) Filmemacherin oder Filmkritikerin, so schreibt Mary Ann Doane, komme darum herum, sich mit dem «männlichen Blick» auseinanderzusetzen, durch Ironisierung – wie etwa in «Barbie» (2023) von Greta Gerwig – oder (seltener) durch Bestätigung, wie in der unfassbar schmierigen HBO-Serie «The Idol» (2023).

 

Männer im Rosenbett

Der sogenannte «weibliche Blick» konfrontiert spätestens seit Beginn der #MeToo-Bewegung im Herbst 2017 das Bild der verdinglichten Frau insbesondere in sozialen Medien wie Tiktok mit «eigenständigen», «natürlichen», «körperpositiven», «queeren» und immer irgendwie «respektvollen» Frauen-Selfies. Designer entwerfen «männliche» oder zumindest androgyne Kleidung für Frauen, Stars wie Billie Eilish, Bella Hadid oder Rihanna tragen klobige Stiefel, Lederjacken, Shorts oder betont «genderfluide» Schnitte. Nicht zuletzt zeigt das Magazin Vogue seit 2020 immer wieder «männliche» Männer in Frauenkleidern.

Dann das vielbeachtete Bild «The Smothering Dream» (2022) der chinesischen Fotografin Yushi Li: Eine Gruppe nackter, diverser und attraktiver Männer liegt, auf Seidenkissen abgestützt, in einem Rosenbett. Hier und da schaut ihre Haut hervor, sie schauen lasziv Richtung Yushi Li, die in einem grünen Kleid auf dem Sofa lagert, oder träumerisch ins Nichts, einer schaut zum Betrachter. Für «The Smothering Dream» habe sie die Männer um sich geschart, die sie begehre, sagt Li. Das Bild ist erotisch aufgeladen, spielt auf das Werk des holländischen Malers Lawrence Alma-Tadema, «Die Rosen von Heliogabalus», an, auf dem es sich umgekehrt verhält: Schöne Frauen und androgyne junge Männer baden und ersticken im Blütenmeer unter dem voyeuristischen Blick des römischen dekadenten Kaisers Heliogabalus.

Lis Bild repräsentiert den «weiblichen Blick». Sie habe ausserdem die Fetischisierung asiatischer Frauen durch westliche Männer thematisieren wollen, eben, indem sie die Blickverhältnisse umkehre.

Der weibliche Blick, der für alle Frauen gleich funktionieren soll, weise sein soll, klüger, irgendwie intimer, ehrlicher oder unabhängiger als der männliche, scheint ebenso daran interessiert, wer schaut – und lässt ausser Acht, wie geschaut wird, nämlich begehrlich und ebenso an Fetischisierung, Konsum und Kaufrausch interessiert.