Frutigen im Berner Oberland. Männer in orangefarbener Arbeiterkleidung belagern die Dorfstrasse. Noch ist ihnen der Durst nicht anzusehen. Mit schwerem Gerät sanieren sie Strassenbelag und Trottoirs. Staub wirbelt auf, trocknet Kehlen aus. Zwei einheimische Arbeiter bleiben jetzt vor ihrem Kleinbagger stehen, blicken nachdenklich Richtung Dorfkirche. Dahinter erstreckt sich die Niesenkette, steile Hänge, wo Wasser entspringt, das qualitativ zum besten im Lande gehört. Dann legen die Arbeiter ihre Westen ab. Sie denken jetzt nicht an reines Wasser – sondern an ein Feierabendbier. Eine Stange. Womöglich ein Industrie-Pils. Was sonst. Bier als Getränk der Einfachheit und Verbrüderung, ein Kumpelgetränk, das uns Menschen auch alle immer ein bisschen gleichmacht. So oder ähnlich äussern sich die Strassenarbeiter, als ich sie nach ihren Bierträumen befrage. Sie werden mit mir aber kein Streitgespräch über Bier-Snobs führen, die sich mit Craft-Beer und abenteuerlichen Aromen von der normalen Welt abheben wollen. In ihrem Bierglas soll alles so bleiben, wie es immer gewesen ist. Sie wünschen sich ein ehrliches, bodenständiges Bier. Mehr nicht. Als wär’s das letzte echte Proletariergetränk. Alles andere, was da «gepanscht» werde, sei doch eh nur «Schnickschnack». Proscht und adieu – aber falsch!

 

«Chrampfen» und zaubern

Der Frutiger Bierhimmel sieht ganz anders aus. Gleich wird sich vor mir ein anonym wirkendes Garagentor öffnen, als ob sich hier Menschen vor der harten Frutiger Wirklichkeit verstecken müssten. Beim ehemaligen Dorflädeli wird ein herrlicher flüssiger Zauber gebraut, dessen Auswirkungen im Dorf noch immer etwas misstrauisch beobachtet werden. Darum bin ich hier. Es ist unter anderem das Lieblingsbier des Bier-Hipsters, das sogenannte India Pale Ale, auch als IPA bekannt, also ein obergäriges Bier, das nach amerikanischer Machart extrem bitter schmeckt, dabei aber nach frischen Zitrusfrüchten duftet. Nun behaupte ich nicht, dass solche Biere immer wunderbar gelingen müssen und dass es verständlicherweise Widerstände gibt gegen die Erneuerung von etwas Altbewährtem, gegen das Fremde. Als sich jetzt nämlich das anonym wirkende Garagentor öffnet, sind auch die Gründe für die Widerstände erahnbar: Da steht nämlich eine Frau. Eine Frau in gelben Gummistiefeln. Und sie spricht: Züritüütsch! Und, noch irritierender, es ist eine Bier-Sommelière und Brauerin, Geschäftsführerin und Mitinhaberin von Frutigbier. Und nebenbei eine der schönsten Mikrobrauereigeschichten im Berner Oberland.

Der Reiz des Mikrobrauens liegt in den experimentellen Aromen, immer mit Fokus auf Qualität.Die Bierbraut heisst Ginette Pernet und kennt die weite Welt. Sie hat jahrelang als freischaffende Event-Fachkraft für internationale Projekte gearbeitet, um dann vor sieben Jahren ihre Liebe in Frutigen zu finden – zum Bier und zu Tinu. Das ist der Mann an der Seite von Ginette, oder besser: einer, der auch problemlos hinter der Frontfrau stehen kann und jetzt stolz auf seine aufgestellte Partnerin blickt. Ehrlich und erfrischend strahlt Ginette über das ganze Gesicht, trägt dazu ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift «Chrampfer». Dieser «Chrampfer» ist einer von gut zwölf Charakteren in einer Lovestory namens Bierbraumanufaktur Frutigbier mit einem fast magisch wirkenden Label: 3714 – die Postleitzahl von Frutigen. Dieser «Chrampfer», ein Pale Ale mit «süssem Abgang», bessert keine Strassen aus, sondern ist honiggelb, solide Malznoten, angenehm gehopft, vollmundig und dennoch leicht. Perfekt zum Ausklingen nach dem Arbeitstag. Bloss nicht für jene Orangewesten auf der Dorfstrasse, die eher kritisch zur kleinen, feinen Qualitätsbrauerei blicken, wo exklusives Craft-Beer mit Frutiger Charakter gebraut wird. Wo sich die guten Eigenschaften von echter wahrer Liebe längst ausbezahlt haben: Vertrauen zum Beispiel. Hingabe. Loyalität statt Egoismus. Keine zu hohen Erwartungen. Bedingungslosigkeit. Zwei Menschen haben sich in Frutigen zusammengetan, die ihre Liebe dank einer Bierbrauerleidenschaft zur «Brewderschaft» erweitert haben. Mit Erfolg!

«Was wir hier brauen, ist ein ehrliches Bier», sagt jetzt der Mann neben der Zürcherin, der Geliebte aus den Bergen, der Einheimische, ein erfolgreicher Inhaber seiner eigenen Schreinerfirma und jetzt auch Bierbrauer: Martin «Tinu» Ruprecht. Gemeinsam brauen er und Ginette seit sieben Jahren. Sie «chrampfen» und «zaubern», so fühle sich Brauen manchmal an. Beide kamen aus gescheiterten Beziehungen. Ginette hatte eigentlich schon längst aufgegeben, sich nach einem Partner umzuschauen. Da gab sie sich vor sieben Jahren nochmals einen Schub, vertraute einer professionellen Online-Partnervermittlung und fand schon beim ersten Versuch ihren Tinu, der ebenfalls auf der Suche war. Ginette zog von Zürich nach Frutigen.

Und so begann eine Liebesgeschichte und Leidenschaft, die zwar keine Kinder produzierte, dafür hübsche Bierflaschen und Bierdosen mit traumhaften Inhalten: amberfarben, Caramel, weisse Schokolade, nussig, leichte Süsse im Abgang. Schmeckt alles wie echte Liebe! Erfrischendes Urweizen, goldgelb mit Banane und Nelke. Oder eben: ein Bier für den Fyrabig, dunkel, trotzdem leicht und süffig, mit leichtem Touch von Rosinen und Röstaromen.

Auf den Etiketten von Frutigbier erkenne ich jetzt Namen von Charakteren, wie man sie vielleicht in Reality-Shows oder Frutiger Beizen antreffen kann: der «Plöffer», ein Amber. Der «Plagööri», ein IPA. Der «Schtüürmi», dunkel. Der «Jammeri», ein Weizen. Und der ultimative Held am Tresen: der «Laferi» – ein hellgelb leuchtendes Bier, zitronig und spritzig, leicht zum Trinken.

 

Tel-Aviv-Reise als Kick

In einem Vierfamilienhaus, nicht weit von der Dorfstrasse 1 entfernt, hat alles begonnen, sieben Monate nachdem sich Ginette und Tinu online kennengelernt hatten. Von der Magie des Bierbrauens hatten sie kurze Zeit später auf einer Reise nach Tel Aviv erfahren. «Dort wimmelt es von Start-ups und wunderbaren Mikrobrauereien», sagt Tinu. «Das gab uns den Kick. Im Keller zu Hause haben wir dann relativ primitiv eine Anlage installiert. Jeden dritten Tag haben wir ein Bier gebraut. Es war wie Liebe auf den ersten Blick.» Der Reiz des Mikrobrauens liegt nämlich in den einzigartigen und experimentellen Aromen, immer mit Fokus auf Qualität statt Quantität.

Plötzlich konnten die Neubrauer mit der Nachfrage aus dem Bekanntenkreis nicht mehr mithalten. Und sie wurden mit der Frage konfrontiert: Wollen und können wir so wirklich weitermachen? «Die Brauerei-Idee kam ja aus dem Bauch heraus», sagt jetzt Ginette. «Ein Jahr später haben wir die Firma gegründet», sagt Tinu. «Wir kannten unsere Stärken, vertrauten uns. Also investierten wir in gleichen Anteilen in eine GmbH. Und so erschufen wir die erste Mikrobrauerei in der Dorfmitte . . .»

 

Sinnvolle Ergänzung zum Mainstream

Der Wechsel von Zürich nach Frutigen war schwierig für Ginette. Sie hatte auf der ganzen Welt gearbeitet, besonders auch im arabischen Raum. «Aber dass es in Frutigen als Frau so schwierig wird, hätte ich nicht gedacht.» Ginette wurde ignoriert, obwohl sie die Frontfrau in der Brauerei ist. Immer hiess es: «Dr Tinu braut. I rede nume mit em Tinu.» Tinu hatte seine Ginette gewarnt: «‹Das könnte hier zäh werden.› Sie hat viele Tränen vergossen. Aber wir haben es geschafft.»

Frutigbier wird heute in vielen Coop-Filialen im Bernbiet angeboten. Gegenwärtig strahlen zwölf «freche Biere» mit dem Label 3714 in den Ladenregalen. «Richtige Bergler» nennen sie ihr Craft-Beer. «Immer ehrlich und direkt. Manchmal eigenwillig wie die Wuchsform eines knorrigen Baums am Niesen. Manchmal spritzig wie eine sprudelnde Quelle . . .» Egal, wie sie ihr Frutigbier nennen: Es ist das Resultat einer echten Lovestory. Bier mit unterschiedlichen Geschmäckern – und sehr viel Seele. Das sind gefragte Qualitäten in einem hartumkämpften Markt. Das wissen auch die exklusiven Verbraucher – wie zum Beispiel das elegante Hotel «The Cambrian» in Adelboden, das ein exklusives Axe-Bier von Frutigbier brauen liess und jetzt im Haus verkauft. Mit Erfolg. Und der «Wandervogel», ein Helles aus der Büchse, hat es schon auf manchen Gipfel in der Umgebung geschafft und wird als Kultobjekt unter ausgetrockneten Kehlen gehandelt.

Es gibt Bierfans, die behaupten, Biere aus dem Haus 3714 Frutigbier seien das beste Bier, das sie je getrunken hätten. Andere sagen gerade das Gegenteil. Geschmäcker sind verschieden. «Aber jedes unserer Biere hat eine Geschichte», sagt Ginette. «Darum geht’s», ergänzt Tinu. «Darum entwerfen wir zu Weihnachten limitierte Biereditionen in Form von Champagnerflaschen. Das kommt sehr gut an.»

Ob die Braumeister in den Grossbrauereien ihr Bier auch selber trinken? Fraglich.Mittlerweile produziert Frutigbier 30 000 Liter Bier pro Jahr, in Dosen, Flaschen oder für den Offenausschank. Es sind die Auswüchse wahrer Liebe, mit der eine leidenschaftliche Bierkultur aus Frutigen in immer neue Dimensionen strahlt. Hinter Ginette und Tinu funkelt jetzt die Anlage mit Braukessel und Brautöpfen, ihr ganzer Stolz, der inzwischen mehrere hunderttausend Franken verschlungen hat. Sie sind ins Risiko gegangen. Wieso tun sie sich das an? Tinu und Ginette brauen Bier, weil es sie glücklich macht – und weil ihnen diese Biere selber schmecken. Ob die Braumeister in den Grossbrauereien ihr Bier auch selber trinken? Fraglich.

Es sind gerade Leute, die in den letzten Jahren wenig oder gar kein Bier getrunken haben, die sich als ihre Zielgruppe entpuppen. Diese Leute schätzen, dass hier eben auch fruchtige, aromatische Biere gebraut werden. Eine sinnvolle Ergänzung zu den Mainstream-Bieren. Frutigbier wird noch viele neue Geschmäcker hervorbringen. Denn da wird mit einer grossen Bierseele und viel Liebe füreinander gearbeitet.

Und ganz vorne eine Frau, Ginette Pernet, die noch heute nicht vergessen kann: «Der Anfang in Frutigen war wirklich sehr hart.» Und Tinu nickt. Er kennt das System. «Wenn du im Kreis der Einheimischen drin bist, dann ist alles super. Aber für Ginette mit ihrem Zürcher Dialekt war es zäh. Und so habe ich ihr gesagt: ‹Wenn du eine Chance haben willst, dann musst du an die Front, dein Gesicht zeigen, dich durchsetzen.›» Und dabei sind es ja oft die einfachsten Sätze, die das Leben leichter machen und Menschen überzeugen. Sätze wie: «Ich liebe dich.» Oder noch besser: «Ein Bier, bitte.»