Wie ist die Entwicklung der Biodiversität aus wissenschaftlicher Sicht einzuschätzen? Nach welchen Gesichtspunkten? Wir fragen den durch umfangreiche Forschungs- und Publikationstätigkeit im In- und Ausland profilierten Bernhard Schmid, emeritierter Professor für Umweltwissenschaften der Universität Zürich. Schmid hat in Zürich Biologie, Mathematik und Chemie studiert, da doktoriert, sich in Basel habilitiert, hinzu kamen Forschungsaufenthalte und Lehrtätigkeiten in England, Frankreich, den USA (Harvard) oder Peking.

Weltwoche: Herr Schmid, wie beurteilen Sie die Entwicklung der Artenvielfalt in der Schweiz?

Bernhard Schmid: Langfristig betrachtet, ist in Europa die Biodiversität vergleichsweise gering, weil der Kontinent die verschiedenen Eiszeiten durchgemacht hat, zudem nicht sehr gross ist und relativ weit nördlich liegt. In der Schweiz hat die Artenvielfalt von Pflanzen, Tieren und anderen Organismen wie Pilzen und Mikroorganismen seit der letzten Vergletscherung wahrscheinlich kontinuierlich zugenommen, zusätzlich begünstigt durch die Landnutzung, die beispielsweise Wälder in offenere Habitate umgewandelt hat, welche zuvor nur an unbewaldeten Spezialstandorten vorkamen.

Weltwoche: Zugenommen bis heute?

Schmid: Nein, vermutlich war um 1850 herum die Artenvielfalt am höchsten. Seither hat mit der Intensivierung in allen Bereichen – Siedlungen, Verkehr, aber auch Landwirtschaft – die Artenvielfalt abgenommen, wobei der Verlust im letzten Jahrhundert, vor allem ab dem Ersten Weltkrieg, besonders gross war. In den vergangenen vierzig Jahren hat sich dieser Rückgang eher abgeschwächt.

Weltwoche: Weswegen?

Schmid: Vor allem weil wir begannen, Naturschutz zu betreiben, im Wald natürlichere Bewirtschaftungsformen einzuführen. Heute lässt man die alten Bäume stehen, man entfernt nicht alle Totholzanteile. Ein Grossteil unserer Wälder unterscheidet sich bezüglich ökologischer Qualität wohl kaum noch von Waldreservaten andernorts. Dass die Waldfläche seit 150 Jahren in der Schweiz nicht weiter abnehmen darf, wirkt sich auch günstig auf die Artenvielfalt aus. Verloren gingen vor allem viele Feuchtgebiete, aber zum Glück sind die übriggebliebenen jetzt verfassungsmässig geschützt. Und belastend war die intensive Landwirtschaft, was nun aber teilweise kompensiert wurde durch die Einführung der ökologischen Ausgleichsmassnahmen in der Agrarpolitik.

Weltwoche: Dann geht die Politik in die richtige Richtung? Würde die Biodiversitätsinitiative da noch etwas ändern?

Schmid: Gerade weil ich diesen eingeschlagenen Weg wichtig finde, bin ich auch sehr für die Biodiversitätsinitiative. Denn damit lässt sich das, was bisher im Gesetz steht, auch verfassungsmässig schützen. Wenn etwas nur im Gesetz steht, besteht die Gefahr, dass wir in unseren Anstrengungen irgendwann nachlassen. Plötzlich möchte man Objekte des Naturschutzinventars doch noch zu überbauen beginnen.

Weltwoche: Die stehen doch unter Schutz.

Schmid: Ohne Verfassungsschutz ist es denkbar, dass plötzlich aus Gründen der Energiegewinnung die Greina-Hochebene doch noch unter einem Stausee verschwindet oder der Bodensee als letzter grösserer Schweizer See auch noch durch ein Stauwehr reguliert wird. Zentrale Argumente des Bundesrats gegen die Initiative sind ja die Bedenken, man könnte sich damit zu sehr einschränken. Die Initiative ist also nötig, damit nicht plötzlich erreichte Errungenschaften wieder rückgängig gemacht werden können. Deshalb verstehe ich den Widerstand des Bauernverbands gegen die Initiative nicht, denn sie brächte den Bauern doch eine Sicherung der Direktzahlungen, Unterstützung bei Naturschutzverträgen und so weiter.

Weltwoche: Was ist denn die richtige Artenvielfalt? Gibt es gute und schlechte Mischungen?

Schmid: Arten, die wir besonders schützen wollen, sind zum Beispiel grosse Tiere, die als Oberste in der Nahrungskette zum Erhalt der Artenvielfalt anderer Organismengruppen beitragen. Bei sehr häufigen, dominanten Arten muss man dagegen nicht befürchten, dass sie aussterben, zudem sind sie durch ihre Dominanz auch eine gewisse Gefährdung für andere Arten, die weniger häufig sind. Das zeigt sich besonders bei invasiven Arten, die wir deshalb zu kontrollieren versuchen. Aber klar, grundsätzlich sind wir als Ökologen der Meinung, alle Arten seien im Prinzip gleichwertig.

Weltwoche: Auch Parasiten?

Schmid: Auch diese haben ihr Existenzrecht – obwohl viele Menschen es bei gewissen Krankheiten wie etwa Masern gut fänden, diese würden verschwinden. Aber aus ethischen Gründen gibt es kaum gute Argumente, bestimmte Arten als besser oder wertvoller einzustufen als andere.

Weltwoche: Bei Wölfen oder Tigern macht man jedoch mehr Aufhebens als bei Käfern.

Schmid: Es gibt schon Gründe, grosse Tiere oder Pflanzen als wertvoller einzustufen als kleine, weil die grossen oft mit besonders vielen anderen Arten vernetzt sind oder ihrerseits viel Lebensraum für zahlreiche kleinere bieten. Ein grosser Baum bietet den einen im Baumwipfel Lebensraum, den andern im unteren Kronenbereich und wieder anderen im Wurzelbereich. Bei einer kleinen, einjährigen Pflanze ist das viel weniger der Fall.

Weltwoche: Sind grosse Lebewesen eher systemrelevant?

Schmid: Im Yellowstone-Nationalpark wurde durch das Einführen der Wölfe das Ökosystem erfolgreich wieder ins Gleichgewicht gebracht, dies dank zahlreichen Nebenwirkungen. Zum einen durch den direkten Frass anderer Tiere, dann aber auch durch verändertes Verhalten bei diesen. Das war ein Riesenerfolg, den man nicht vorausgesehen hatte, weil man diese Komplexität nicht kannte.

Weltwoche: Gibt es weitere solche Arten?

Schmid: Ja, da sind Schlüsselarten wie etwa der Biber, der ja in der Schweiz ausgestorben war und jetzt wieder da ist. Er ist eine Schlüsselart, weil er ein Ökosystemingenieur ist. Er kann einen Bach stauen und dadurch ein Gebiet in ein Feuchtgebiet umwandeln, was allen Arten, die da leben können, Vorteile bringt.

Weltwoche: Wie schaut man in der Wissenschaft auf die Artenvielfalt? Aus Sicht des Menschen oder aus Sicht eines Ökosystems?

Schmid: Es gibt verschiedene Betrachtungspunkte. Die meisten Wissenschaftler vertreten die anthropozentrische Perspektive, schauen also aus Sicht der Menschen auf das Thema. Das bedeutet aber nicht, dass eine Art, die man nicht direkt nutzen kann, nicht als schützenswert gilt. Der Schutz kann trotzdem sinnvoll sein, etwa weil die Art zum Funktionieren des Ökosystems beiträgt, weil wir eine kulturelle Beziehung dazu haben oder weil uns die Betrachtung der Art Freude macht.

Weltwoche: Und die anderen Betrachtungsweisen?

Schmid: Es gibt die biozentrische Sicht, die jede Art von sich selbst aus betrachtet. So gesehen, hat natürlich jedes Tier ein Interesse zu leben. Schliesslich gibt es noch den Ökozentrismus, der besagt: Das Ökosystem hat ein Interesse zu existieren. In der Schweiz haben wohl diese Sichtweisen zur Diskussion über die Würde der Kreatur geführt. Viele Wissenschaftler fanden das übertrieben.

Weltwoche: Die Öffentlichkeit nicht?

Schmid: Nein, ich glaube, diese Debatte hat eine Entwicklung in der Gesellschaft abgebildet, die tatsächlich stattfindet. Da ist wahrscheinlich die biozentrische Sicht fast stärker vertreten als in der Wissenschaft, zumindest gesinnungsmässig, im tatsächlichen Verhalten oft weniger.

Weltwoche: Die Leute denken letztlich doch an sich?

Schmid: Ja, eine ausgeprägt biozentrische Sicht würde nämlich bedeuten, dass es die Menschen nicht eher brauche als andere Arten, die Natur werde sowieso weiter existieren, mit oder ohne Menschen. Deshalb ist meiner Ansicht nach letztlich doch die anthropozentrische Sicht sinnvoll, denn diese zielt darauf ab, unsere Natur so zu erhalten, dass sie uns Menschen weiterhin das Leben ermöglicht.

Weltwoche: Also: Welchen Nutzen bringt die Biodiversität den Menschen?

Schmid: Die Biodiversität ist die Grundlage jeglichen Lebens auf der Erde. Und sie hat diese autokatalytische Funktion, dass Diversität zu noch mehr Diversität führt. Ohne Biodiversität, das heisst ohne Lebewesen, wäre die Erde unbewohnbar, etwas zwischen Venus und Mars. Die Biodiversität geht zwar zurück, ist aber höher als in anderen Zeitaltern der Erdgeschichte. Die Ökosysteme erbringen heute dank ihrer generell hohen Biodiversität auch sehr hochstehende Funktionen.

Weltwoche: Welches sind aus theoretischer Sicht Vorteile von Diversität?

Schmid: Grundsätzlich zwei: erstens eine Versicherung, dass man verschiedene Möglichkeiten zur Anpassung hat, wenn dies nötig wird, Stichwort Risikoverteilung. Genetische Diversität innerhalb einer bestimmten Art zum Beispiel ist vorteilhaft, wenn sich die Umwelt verändert, wertvoll als Option. Deshalb ist es wichtig, dass viele Populationen einer Art geschützt werden, nicht nur die Art als solche, weil unterschiedliche Gene darin vertreten sind.

Weltwoche: Ein Beispiel?

Schmid: Bei Buchen etwa, die in gewissen Gebieten durch die Klimaerwärmung bedroht sind, finden wir möglicherweise in Italien oder sonst im Süden Populationen, die an höhere Temperaturen angepasst sind. Ein weiterer Aspekt ist, dass artenreiche Systeme auch zu einer besseren Kontrolle der Biodiversität führen. In einem Ökosystem mit vielen Pflanzen gibt es auch viele Insekten, viele andere Tiere, viele Mikroorganismen. Dies verringert die Wahrscheinlichkeit, dass eine einzelne Art plötzlich eine Massenentwicklung an den Tag legt. Schadinsekten etwa sind viel weniger häufig in einem komplexen System als in einem einfachen.

Weltwoche: Und der zweite Vorteil von Diversität?

Schmid: Das ist ein Arbeitsteilungseffekt. Oft kann ein System mit mehr Arten mehr produzieren, weil es zu einer Arbeitsteilung kommt. Wenn die eine Art zum Beispiel im Boden tief wurzelt, kann sie bei Trockenzeit noch Wasser erlangen, während flachwurzelnde Pflanzen bei Regen schnell viel Wasser aufnehmen. Durch solche Aufgabenteilungen werden Ökosysteme mit steigender Zahl von Arten produktiver. Sie können etwa Stickstoff oder Kohlenstoff besser rezyklieren, mehr Kohlenstoff im Boden speichern, auch das Wasser besser reinigen. In Abwasserreinigungsanlagen mit Pflanzen wird das Wasser umso besser gereinigt, je mehr unterschiedliche Arten man hat, weil jede auf ihre Art Stickstoff aufnehmen und umwandeln kann.

Weltwoche: Gilt das auch auf dem Feld?

Schmid: Wenn man zum Beispiel auf einem Acker 3,5 Prozent Randstreifen als Artenvielfaltsfläche reserviert, dann kann es gut sein, dass man auf den restlichen 96,5 ​Prozent insgesamt mehr produziert als auf der vorherigen 100-Prozent-Fläche, weil auf dem artenreichen Ackerrand Bestäuber oder Feinde von Schädlingen kultiviert werden, die dann auf der Ackerfläche den Ertrag spürbar erhöhen und den Pestizideinsatz verringern.

Weltwoche: Wurde das nachgewiesen?

Schmid: Ausführlich untersucht wurde dies noch nicht, aber wir finden in diesen Ausgleichsflächen viel mehr Insekten als in den Kontrollflächen. Versuche zeigten auch, dass Pflanzen in Töpfen in der Nähe solcher Flächen viel mehr Samen produzieren als jene in weiter entfernten Töpfen, wegen der intensiveren Bestäubung. Und ein weiteres Indiz: Mischkulturen sind fast immer produktiver als Monokulturen, selbst wenn sie intensiv bewirtschaftet werden.

Weltwoche: Was wäre in der Schweiz jetzt zu tun?

Schmid: Zielführend wäre es, spezifische Massnahmen zum Habitatschutz auszubauen. Habitate zu schützen, nicht Arten. Zum Beispiel Lerchenfenster im Weizen, damit die Lerchen dort brüten können. Für Wald und Feuchtgebiete ist der Schutz relativ gut etabliert. Die Feuchtgebiete gingen in den letzten 150 Jahren zwar enorm zurück, aber die jetzt existierenden Naturschutzgebiete sind relativ sicher. Der Klimawandel stellt hier die grössere Bedrohung dar als fehlender Naturschutz.

Weltwoche: Drückt es in der Landwirtschaft?

Schmid: Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, das flächenbezogen eine derart hohe Biodiversität hat, wegen der Topografie, aber auch wegen der kleinräumigen Landwirtschaft, heute mit Direktzahlungen für Biodiversitätsförderflächen. In der EU ist biologische Landwirtschaft nicht an die Ausscheidung ökologischer Ausgleichsflächen gebunden, mit letztlich fatalen Auswirkungen auf die Biodiversität, wie sich 2021 in einer grossangelegten Untersuchung1 zeigte. Der Nachteil der Schweiz ist der hohe Druck der Bevölkerung, diese sehr dichte Besiedlung im Mittelland, die so wenig Raum lässt und unter anderem die landwirtschaftliche Nutzfläche bedroht, auch weil darauf zusätzliche Energie produziert werden soll. Ich verstehe nicht, weshalb der Bauernverband nicht vehement für die Biodiversitätsinitiative wirbt.

1 Tscharntke et al. (2021): «Beyond organic farming – harnessing biodiversity-friendly landscapes», Trends in Ecology and Evolution 36(10): 919-930 (https://doi.org/10.1016/j.tree.2021.06.010)

 

Die Bauern: Wie im Interview angesprochen, ist der Schweizerische Bauernverband, mit Verweis auf drohende Kulturlandeinschränkungen, gegen die Biodiversitätsinitiative – ganz im Gegensatz zu den hier im Heft vorgestellten NGOs Pro Natura und BirdLife.