Als Usain Bolt am 16. August 2009 in Berlin über 100 Meter mit 9,58 Sekunden den immer noch gültigen Weltrekord aufstellte, tat er dies aus Freude am Wettbewerb – und wohl auch dem Preisgeld zuliebe. Das Leben des Jamaikaners hing aber nicht von seiner Höchstleistung ab.

Ganz anders im Tierreich. Wenn sich der Wanderfalke mit über 200 km/h vom Himmel stürzt oder der Gepard mit 120 km/h über die Steppe sprintet, ist solche Rasanz überlebenswichtige Jagdstrategie. Denn im Laufe der Evolution haben auch Krähen und Gazellen gelernt, durch immer schnellere Flucht dem Jäger zu entkommen.

 

Jäger und Gejagter

Wie eng der animalische Wettlauf zwischen Fressen und Gefressenwerden ist, zeigt das Beispiel Gepard und Gazelle. Zwar beschleunigt die Raubkatze vom Stand in zwei Sekunden auf 70 km/h, wobei sie für den Spurt, ähnlich dem Hasen, die Hinterbeine weit vor die Vorderläufe setzt. Die äusserst biegsame Wirbelsäule unterstützt die Laufbewegung wie eine gespannte Feder; der lange Schwanz dient als stabilisierendes Seitenruder. Dank weit gespreizten Pfoten kann der Gepard effizient am Boden abstossen, und lange Krallen greifen wie Spikes.

Nach maximal 400 Metern ist der Sprinter aber hoffnungslos am Limit und muss die Jagd abbrechen. Deshalb kann der Gepard nur reüssieren, wenn er sich mindestens auf fünfzig Meter an die Gazelle heranschleichen kann. Lanciert der Jäger dann den Angriff, ist er auch nur in 40 Prozent der Fälle erfolgreich.

Selbst wenn die Beute tot am Boden liegt, ist der Lohn noch keineswegs garantiert. Denn sind in der Nähe Löwen oder Hyänen, vertreiben sie den schwächeren Gepard von seiner Beute. So muss der Gepard möglichst schnell fressen – was aber nicht sofort möglich ist, denn nach der Hatz hechelt das ausgepowerte Tier erst eine Viertelstunde lang am Boden.

Dann aber reisst es in aller Hast der Gazelle die besten Muskelstücke aus dem Leib.

Auch Beutetiere nutzen Geschwindigkeit als lebensrettende Taktik, nicht selten ergänzt durch raffiniertes Gruppenverhalten. So faszinieren riesige Schwärme von Vögeln und Fischen, die wie eine lebende Wolke über den Himmel oder durchs Wasser jagen, weshalb der jagende Falke oder der Hai eine einzelne Beute nur schwer lokalisieren kann. Zudem schafft der Schwarm mit synchronem Manöver um den Angreifer herum blitzschnell eine freie Lücke.

 

Trickreicher Hase

Zuweilen hilft der potenziellen Beute eine Kombination von langsam und schnell. Der Feldhase ist ein ziemlich wehrloses Wesen. Der einstige Steppenbewohner ist zum Meister der Tarnung geworden. Sein Balg ist eine Mischung heller und dunkler Farbtöne, die das natürliche Spiel zwischen Licht und Schatten, den Farbwechsel am Erdboden und an den Pflanzenteilen nachahmen. Spürt der Hase eine Gefahr, drückt er sich in eine Mulde und verharrt völlig regungslos.

Damit er auch möglichst ruhig bleibt, senkt der Hase den Puls von 120 Schlägen pro Minute auf nur noch sechzig. Nähert sich trotzdem ein Feind, rast der Hase im letzten Moment wie aus der Kanone geschossen aus der Deckung und sucht sein Heil in der Flucht. Um rasch auf Touren zu kommen, hat das Tier vor dem Sprint den Herzschlag auf den dreifachen Ruhepuls hochgejagt.

Und statt geradeaus wegzurennen, nutzt der Flüchtende sein berühmtes Hakenschlagen. Dank spezieller Beintechnik kann der Hase den Körper in vollem Lauf seitlich abdrehen und so die Fluchtrichtung abrupt ändern. Die überraschende und völlig unberechenbare Wende lässt selbst den schnellsten Fuchs oder Jagdhund ins Leere laufen.

 

Herbert Cerutti ist Autor und Tierexperte.