Welttheater Einsiedeln:
Freilichttheater vor der Klosterkirche Einsiedeln. Informationen unter Welttheatereinsiedeln.ch. Bis 7. September

Sie wollen nicht spielen, sie haben die Nase gestrichen voll. «Der König» mag ohne Untertanen nicht mehr mitmachen. Auch «die Weisheit» hat genug, und «der Schönheit» ist die Lust am Drama vergangen. Sie waren einst die tragenden Figuren im «Grossen Welttheater» des spanischen Dichters Pedro Calderón de la Barca auf dem Klosterplatz von Einsiedeln. Nun übernehmen zwei Kinder das Zepter, um es auf die Bühne zu bringen.

Der Berner Autor Lukas Bärfuss hat das barocke Mysterienspiel vom Himmel auf die Erde geholt. Keine höhere Macht leitet das Geschehen mehr, sondern die Menschen bestimmen ihr Schicksal selbst. Ganz im Sinn von Immanuel Kant muss Gott nicht mehr auf Erden eingreifen, die Menschen sorgen selbst für ihr Unglück. So wandelt sich die Strippenzieherin Emanuela vom unschuldigen Kind zur machtbesessenen Despotin und schliesslich zur Greisin. Vielleicht erinnert ihr Name ja nicht zufällig an den Philosophen.

«Einisch chunt d Sunne, einisch chunt d Pescht. Einisch am Bode, einisch dr Bescht.»Zur Einstimmung sitze ich vor der Aufführung in der Klosterkirche und suche an diesem für die Katholiken gesegneten Ort trotz Kant und Bärfuss nach Gottesspuren. Doch selbst hier ist das Profane allgegenwärtig. Eine kleine asiatische Reisegruppe steht fassungslos vor dem barocken Reichtum. Einzelne zücken verstohlen das Mobiltelefon, um entgegen dem Fotoverbot ein paar Bilder dieser opulenten Pracht nach Hause zu schicken. Vor der Gnadenkapelle mit der schwarzen Madonna beten Gläubige den Rosenkranz für den Frieden in einem Land, das sich längst von Gott vergessen fühlt: Eine Ukrainerin bittet in ihrer Muttersprache um ein Ende des Krieges in ihrer Heimat und hofft auf die Gnade der höheren Macht.

 

Rosa-pinke Tops

Wie ich die Kirche verlasse, komme ich an einem Plakat vorbei. «Wir sind keine Schauspieler» steht in grossen Lettern zu lesen, darunter sind die 39 Einsiedler Klosterbrüder auf einem Gruppenbild zu sehen mit dem Satz: «Seit 1090 Jahren sind wir an diesem Ort für Gott da …», sie wirken aber jünger. Die Gläubigen müssen mit der Affiche ihre Anwesenheit im säkularen Welttheater rechtfertigen.

Ich spaziere weiter zum Abteihof, wo der Chor gerade am Einsingen ist, genauer bei den Atemübungen unter der Regie einer versierten Leiterin. Die gesangliche Probe mit «Piii, pee, paa, poo …» tönt erfolgversprechend. Etwas ratlos lassen einen nur die rosa-pinken Tops der Sängerinnen und Sänger, die an deutsche Fussballspieler im aktuellen Sportgeschehen erinnern.

Auf dem Weg zurück zu den Zuschauertribünen komme ich an einem Kinderspielplatz vorbei. Einsiedler Bürger, spielbereit in ihrer Verkleidung, huschen wie Kobolde und Elfen vorbei. Nur ein mit Krücke bestückter Alter nimmt es gemächlich. Ist er so echt wie die Mönche oder doch eher ein Schauspieler, auf den seine mit Lumpen drapierte Verkleidung hindeutet? In Einsiedeln liegen Wirklichkeit und Fiktion in den Wochen des «Welttheaters» nahe beieinander.

Bestimmt echt sind die Halbwüchsigen, die sich auf diesem Spielplatz zum freitäglichen Ausgang treffen. Das Geschehen rund um das «Welttheater» gleich daneben könnte ihnen nicht ferner sein; ihr Welttheater ist ein anderes. Diesen lebensfrohen Jugendlichen sind Einsichten über Gott oder dessen aktuelle Absenz auf Erden einerlei.

 

Verloren in Begierden

Tatsächlich dominieren die gesetzteren Jahrgänge im Publikum, das gerade zu den beiden mächtigen Tribünen strömt. Die Zuschauer kennen einander, begrüssen und herzen sich. Die eine Hälfte der Bewohner von Einsiedeln und Umgebung macht beim Spiel mit, die andere Hälfte schaut zu. Vielleicht tauschen sie bei der nächsten Aufführung. Einerlei, manche sehen das Stück jedenfalls mehrmals, um ihre Angehörigen auf der Bühne zu unterstützen.

Dann geht es los mit der Verweigerungsszene von Calderóns «König» und dessen resignierten Kumpanen. Der Spielleiter, «der Autor», sagt die Vorstellung kurzerhand entnervt ab. Er ist an die Stelle von Gott getreten, verfügt aber nur über beschränkte Macht. Die Kinder Emanuela und Pablo entreissen sie ihm und kommen so zu ihrem Auftritt auf der Weltbühne Klosterplatz. Leider bekommt dies Pablo im Verlauf des Abends denkbar schlecht. Denn Emanuela befördert ihn in ihrem Machtrausch geradewegs ins Jenseits – eine krude Form von zeitgeistigem Feminismus? Zumindest will Lukas Bärfuss sein Stück als «feministisch» verstanden haben, wie er in einer Dokumentation des Schweizer Fernsehens sagt.

Eine stringente Handlung ist in der Folge nicht auszumachen. Opulente Bilder reflektieren vielmehr das mitunter schreckliche Geschehen in den menschlichen Niederungen: Bauern mühen sich auf einem Acker ab. Oder es kommt zu einem martialischen Auftritt einer Soldateska mit wehenden roten Fahnen, die das Volk einschüchtert. Dann wiederum verschachern Mütter ihre Mädchen als Prostituierte, um zu überleben. Diese Inszenierung nimmt wirklich keine Rücksicht auf klerikale Befindlichkeiten im Barockkloster. Man kenne das alles, wie der Abt im Fernsehen tapfer sagt, Kindesmissbrauch in der Kirche ist allenthalben ein Thema.

Tatsächlich ist das Elend in unserem selbstbestimmten Dasein schier grenzenlos, schreibt Bärfuss im Programmheft: «Der heutige Mensch verliert sich in den Begierden, begibt sich in das Gefängnis jener, die behaupten, den Sinn des Lebens zu kennen. Oder er flüchtet vor dieser Herausforderung in das Vergessen, in den Zynismus, in den Materialismus, in den Rausch.»

Calderóns «Welttheater» in der neuzeitlichen Form hatte 1924 in Einsiedeln Premiere und wurde seither in unterschiedlichen Abständen aufgeführt. Das Stück ist ein unbestechlicher Spiegel der gesellschaftlichen Befindlichkeit. Zuerst orientierte es sich an christlich-klerikalen Wertvorstellungen. Im Jahr 1970 kam es zu einem ersten Konflikt, weil junge Schauspieler die Inszenierung für altbacken hielten. Später scheiterte der legendäre Regisseur Werner Düggelin mit seinen Vorstellungen eines Volkstheaters. Heute ist in der gottlosen Beliebigkeit alles möglich, und niemand regt sich auf.

 

Lust am Leben

Auf all den Schrecken folgt indes – Glück für das Publikum – immer wieder Gefälliges, meist gespielt von Kindern. So ergibt sich ein unterhaltsamer Reigen aus Schrecken und Freuden. «Einisch chunt d Sunne, einisch chunt d Pescht. Einisch am Bode, einisch dr Bescht – ja, so geits i däm schöne Wälttheater», singt der unterdessen gut eingeübte Chor in einem Ohrwurm.

Die Stärke dieser Inszenierung liegt in den perfekten choreografischen Aufzügen mit all den Einsiedler Laiendarstellern. Hier ist Lust am Leben spürbar, Spielfreude herrscht allenthalben. Dazu gehören eine Reihe witziger Einfälle, etwa eine Heuschrecke in Sauriergrösse, die ihre Aufwartung macht. Oder ein weisses Rössli höselet über die Bühne, als suche es verzweifelt einen Heuhaufen, der nirgends zu sehen ist.

Einsiedler Bürger, spielbereit in ihrer Verkleidung, huschen wie Kobolde und Elfen vorbei.Nach und nach dunkelt der Klosterplatz ein, die Nacht legt sich über die Einsiedler Welt. Eine weisse Kugel leuchtet über dem Klosterplatz – ist es die Welt oder ein Vollmond? Was auch immer, das Licht scheint versöhnlich auf die Erde, auf dass das Geschehen doch noch ein gutes Ende nehmen möge. Das Publikum verdankt es mit einem langen, rhythmischen Applaus, als sich das Ensemble zu einem letzten Aufzug versammelt.