Berlin

Ankunft im Hauptbahnhof. Hallenhohe Banner warben hier noch vor wenigen Wochen für Graffiti-Workshops. Die Kurse seien «super geeignet», um neue Leute mit ähnlichen Interessen kennenzulernen. Nach ein paar Tagen in Berlin werde ich melancholisch feststellen, dass offenbar nur wenige Passanten der Versuchung widerstehen konnten, neue Leute kennenzulernen. Jedenfalls gibt es in dieser trostlosen, aufgegebenen Stadt kaum noch eine Fläche, die nicht besprüht ist.

Ja sie, diese Stadt, auf die einst die Welt schauen sollte, wie es ihr Bürgermeister Ernst Reuter in seiner grossen Rede gefordert hatte, 1948 war das, vor Äonen von Jahren – diese Stadt sieht heute so aus wie eine Kita, nachdem die Erzieherinnen den Vierjährigen zugerufen haben: «Tobt euch aus!», und daraufhin alles stehen- und liegenliessen; ist schliesslich Feierabend in Berlin.

Preussens Ehrgeiz

Es ist nicht nur der Dreck an den Hauswänden und der Sperrmüll auf den Strassen. Es ist dieser erschöpfte Galgenhumor, die Roheit im Umgang, die mehr an eine failed city wie Mogadischu erinnert als an ein neues Babylon, das diese Stadt angeblich sein soll, so irgendwie wild und multikulti.

In Berlin werden Baustellen nicht errichtet, um zu bauen, sondern um Fahrbahnen aggressiv zu verengen. Der Kudamm-Boulevard, der von Preussens Ehrgeiz zeugte, ein Paris auf märkischem Sand zu errichten, verläuft einspurig und ist durch einen mit Stahlband gesicherten Radfahrweg entstellt. In your face, ihr elenden Autofahrer:innen!

Auch die Kampfparolen fehlen nicht. Gleich um die Ecke, in der Post am Tauentzien, werden die stundenlang Wartenden aufgefordert: «Gehen Sie mit uns den grünen Weg». Und dann dieser Ampelmänner-Humor: «Klimaneutral versenden. Jetzt auch empfangen». Oder der Sound der Kasko-Reklamen, älteren Generationen bekannt von DDR-Autobahnen: «Sofort unterwegs. Gut angekommen».

Ich erinnere mich an die Zeiten nach der Wende, als diese Stadt in die Zukunft glänzte und auf den vielen Baustellen tatsächlich Bauarbeiter zu sehen waren, eine Stadt voller Hoffnung. Die Stadt, in der ich in den Siebzigern studiert hatte, schüttelte ihr Mauer-Elend ab und stürmte nach vorn.

Der Inkompetenz hat sich eine Zerstörungswut hinzugesellt, nennen wir es den Kita-Leninismus.

Sie tat es ein Jahrzehnt lang, bis der wurschtige Partybürgermeister Klaus Wowereit («arm, aber sexy») die Finanzen mit Glanzstücken wie dem Flughafen (Bauzeit: neun Jahre) vollends ruinierte. Er war mit dem Spruch «Ich bin schwul, und das ist auch gut so» gewählt worden, also nicht wegen eines Kompetenz-, sondern eines Diversity-Arguments. Allerdings hat sich der Inkompetenz nun eine kampfeslustige Zerstörungswut hinzugesellt, nennen wir es den Kita-Leninismus.

Monatelang war die Einkaufsmeile der Friedrichstrasse gesperrt worden, verkehrsberuhigt, um dort eine Piazza zu simulieren: schwere Riesensitzmöbel auf Paletten, deren Düsternis sich niemand ausliefern wollte. Hier ging es von vornherein nicht um Wohlfühloasen für Bürger, sondern um den «Neidhass auf das Bestehende» (Michael Klonovsky).

Ich bin in Berlin, um meinen neuen Roman «Armageddon» zu promoten, der tatsächlich das Weltende zum Thema hat. Aber nicht jenes, das die Klimasektierer meinen, sondern das Ende von Glauben und gesundem Menschenverstand. Eine Verfilmung, denke ich mir, müsste hier spielen.

Dabei gibt es in Berlin immer noch Oasen der Vernunft. Das Restaurant «Adnan» an der Schlüterstrasse, Treffpunkt für für Schrifsteller wie Ferdinand von Schirach oder Ex-Diplomaten wie meinen Bruder (London, New York, Washington), die den Verlustschmerz über ein von Erwachsenen geleitetes Aussenministerium nicht ganz verhehlen können. Oder das Restaurant «Pasternak» am Prenzlauer Berg unter Kastanien, wo ich mich mit meiner alten Theaterliebe, der grossen Schauspielerin Ilse Ritter, an die Schaubühne unter Peter Stein und Gorkis «Sommergäste» erinnere. Sie tritt nun als Seherin auf, mit den von ihr selbstübersetzten Götterliedern der «Edda». «Weit sehe ich, weit in die Welten all.» Eine grosse Sage von Schöpfung und Untergang, die es glücklicherweise auch gedruckt gibt.

Wir tauschen unsere Bücher. Um meines, erzähle ich ihr, gibt es Kontroversen. Zwei Autoren haben den Verlag verlassen, weil sie nicht unter einem Dach mit mir publiziert werden wollen. «Aber Matthias», sagt sie, «du bist doch kein Verbrecher! Vielleicht sind sie sauer, weil du etwas weisst, was die nicht wissen.» Es folgen Erörterungen über die Weisheit von Mythen. Weisswein, Kalbsbäckchen mit Backpflaume. Russisches Rezept.

Orthodoxie und Indiana Jones

Ja, es gibt sie noch, die Intelligenz und die Poesie in dieser Stadt. Nach einem angeregten Abend mit Freunden im Friedrichshain, mit Diskussionen über die Orthodoxie, die Gnade und Indiana Jones, mit Wein und russischen und ukrainischen Liedern und denen der Beatles, zurück ins Hotel. Kilometerweit einspurig an verwaisten Baubarrikaden entlang durch die Nacht.

Normalerweise sind Taxifahrer in Reporterstücken tabu. Hier müssen sie sein, hier sind sie Zeugen. Mein Taxifahrer ist Türke der zweiten Generation. Nach der Ankunft sitzen wir noch lange zusammen. Er ist verzweifelt. Seine Kinder, studiert, finden keinen Job. «Deutschland war doch mal Vorbild. Pünktlich und fleissig und klug. Jetzt haben wir eine Aussenministerin, die kein Deutsch kann.»

Deutschland? In Berlin doch eher Somalia.

Matthias Matussek: Armageddon. Roman.Europa-Verlag. 288 S., Fr. 29.90