Sonnengebräunt und selbstgewiss stand Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán Anfang September vor den Brüsseler Journalisten, ­neben ihm ein frustriert wirkender EU-Parlaments-Präsident Martin Schulz. Gerade hatten sie einander unter vier Augen ihre total gegensätzlichen Standpunkte zur Flüchtlingskrise um die Ohren gehauen. Schulz hatte darauf ­gedrängt, dass Orbán sich in eine «europäische Lösung» und «verbindliche Quoten» fügt, und Orbán hatte kühl erwidert, dass das, was er ­«Lösung» nenne, nur organisierte Ratlosigkeit und daher schädlich sei. Mehr als jedes Wort sagte die Körpersprache der beiden Männer: Orbán war in seinem Element, Körper und ­Mimik schienen zu sagen: «Ich weiss, wer ich bin, und ich weiss, was ich tue.» Schulz dagegen wirkte wie jemand, der es nicht erwarten kann, aus dem Zimmer zu eilen.

In klaren, knappen Sätzen führte Orbán aus, dass «europäische Führer» (wie Schulz) die «Kontrolle verloren» und keine Lösung hätten, die EU-Regeln zur Grenzkontrolle nicht mehr beachteten und auch Ungarn daran hindern wollten, sie zu beachten. «Hindert uns wenigstens nicht bei der Arbeit», sagte er. Mehr Geringschätzung geht nicht. Schulz sah entsprechend aus: wie jemand, der gerne einen Treffer landen würde, aber es einfach nicht kann. Nur drohen: «Es droht die tiefste Spaltung, welche die EU je erlebt hat», ­sagte er und meinte damit, dass zwischen ­Ungarn und Westeuropa die Brücken brechen könnten.

«Form seines Lebens»

Diese Haltung spiegelt sich in den Kolumnen westeuropäischer Medien und den Äusserungen westlicher Politiker. Orbán ist für sie zum Antichristen geworden, zum «Oberschurken Europas», wie die Bild schrieb. Der österreichische Bundeskanzler Faymann bemüht gar ­Nazivergleiche gegen ihn.

Und doch sieht er aus, als sei es ihm nie besser gegangen. Insider bestätigen, dass er in der «Form seines Lebens» ist. Auf dem alljähr­lichen «Picknick» seiner Parteigetreuen in ­Kötcse kürzlich sei er «gelöst und witzig» ­gewesen, ­sagen mehrere Teilnehmer. Und er ­habe Folgendes von seinem Brüssel-Besuch ­erzählt: Der EU-Ratspräsident und polnische Regierungschef Donald Tusk habe ihm im Vertrauen ­gesagt: «Viktor, halte drei Monate durch, dann wird die Stimmung kippen.» ­Gemeint war die neue Flüchtlingsfreundlichkeit vor allem in Deutschland.

Lange redete Orbán in Kötcse über die europä­ische Gesamtlage und schien, so erzählen Teilnehmer, die Krise als Chance zu sehen: dass nämlich das Flüchtlingschaos überall in Europa Kräfte stärken könnte, deren Weltsicht seiner eigenen ähnelt. Mehr Nationalstaat, weniger Europa. Weniger Liberalismus, mehr Familie, mehr Kinder, mehr soziale Kohäsion.

Fast scheint es, als versuche er, gezielt auf die europäische Öffentlichkeit einzuwirken, sich zur Stimme der «schweigenden Mehrheit» weit über Ungarn hinaus zu machen. Kaum ein Regierungschef geht öfter nach Brüssel als er, um dort Reden und Pressekonferenzen zu halten. Er gibt Interviews links und rechts. Er will nicht nur in Ungarn, sondern in den europä­ischen Gesellschaften Tiefenwirkung entfalten.

Sein polnischer Biograf Igor Janke ­schreibt, dass er einer ist, der das Zeug dazu hat, Euro­pa durchzurütteln wie einst Margaret Thatcher. Er sagt aber auch, dass Orbán sich dabei selbst im Weg steht. Weil er kein Talent und keine Geduld für Konsenssuche habe, für den Aufbau von Bündnissen. Er ist zu konfrontativ. Es ist, als mache ihm Streit mehr Spass als Harmonie.

Orbán ist ein Kämpfer, ein Siegertyp, der zwar schon Schlachten verlor, aber am Ende meistens der Gewinner blieb. Gegen die Kommunisten, als die Diktatur noch mächtig und er noch jung und chancenlos schien. ­Gegen die monopolhafte Pressemacht der linken und ­liberalen Medien in Ungarn nach der Wende, an denen er sich später rächte. ­Gegen den Druck der Grossen und Guten der EU, die ihn nicht von einer tiefen Umgestaltung Ungarns im «natio­nalen» Geiste abzuhalten vermochten. Gegen den Druck multinationaler Unternehmen, die er bedrängt und besteuert, um mit diesem Geld die «einfachen Bürger» zu entlasten und den einheimischen Mittelstand zu stützen.

Er scheint zu denken, dass er auch diesmal gewinnen wird, im grossen Ringen um Öffnung oder Schliessung Europas in der Flüchtlingskrise. Es ist ein Kräftemessen, dessen Ausgang Schicksal und Identität des Kontinents prägen wird. Orbáns Gegenpol ist Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dabei ist sie diejenige, die immer diskret ihre schützende Hand über ihn hielt, wenn er in Brüssel als «uneuropäisch» ­angegriffen wurde. Aber nun greift er Deutschland und Merkel in der Flüchtlingsfrage als «unverantwortlich» an. Sie und er sind die beiden einzigen politischen Führer in Europa, die sich in der Flüchtlingskrise zu starken Entscheiden auf­gerafft haben. Merkel setzte alles auf eine Öffnung der Grenzen für die Schutz­bedürftigen. Orbán alles auf eine Schliessung.

Beide wurden dafür gefeiert und angefeindet – und gehen hohe Risiken ein. Merkel ­wurde in den deutschen Medien bejubelt, aber die Stimmung kann kippen, falls als Folge ­ihrer Flüchtlingspolitik Arbeitslosigkeit, Steuern und Kriminalität steigen sollten. Schon jetzt herrscht in der Schwesterpartei CSU Aufruhr. Nur eine Woche nach der Grenzöffnung war Deutschland «am Ende der Belastbarkeit» angelangt und führte wieder Grenzkontrollen ein.

Immer die härtere Strategie

Orbán dagegen wird – zumindest in Ungarn – ­gefeiert, weil er die Grenzen mit rabiaten Zwangsmitteln schliesst und Dinge sagt wie: «Diese Völkerwanderung ist das Ende der euro­päischen Kultur.» Seine Popularität steigt, die inneren Risse, an denen seine ­Fidesz-Partei noch vor wenigen Monaten laborierte, sind wie weggewischt. Aber auch er geht Risiken ein. Der Druck aus dem Westen, um Orbán auf EU-Linie zu bringen, könnte so gross werden, dass es wehtut. Und wenn sein neuer Grenzzaun in Richtung Serbien den Flüchtlingsstrom nicht nachhaltig stoppt, wird die radikal rechte Jobbik-Partei daraus Kapital schlagen (siehe Seite 20). Gewählt wird 2018.

Orbán hat wie immer die härtere Strategie ­gewählt. Es ist so etwas wie sein persönliches Motto. «Wir sind insofern konservativ, als wir bei zwei Lösungsansätzen immer den härteren wählen», sagte er einmal auf einer internen ­Besprechung mit konservativen Chefredaktoren. Er hatte ihnen gerade mitgeteilt, dass ihre Medien weniger Geld aus staatlichen Anzeigen bekommen würden. Weil sie zuletzt kritischer berichtet hatten. Weil er neue, noch loyalere parteinahe Medien aufbauen wollte.

Wie «konservativ» es ist, Steuergelder für Parteipropaganda auszugeben, sei dahin­gestellt. Aber Viktor Orbán hat zeit seines ­Lebens immer die denkbar «härteste» Strategie gewählt, ohne jeden Respekt für die herrschende Ordnung. Immer gegen den Strom – oder das, was als Strom galt. Er meinte immer eine andere, tiefere Strömung spüren zu können. Die der Unzufriedenheit mit dem Kommunismus. Dann die Unzufriedenheit mit der teilweise verkorksten Wende. Jetzt die Unzufriedenheit in weiten Teilen der europäischen Gesellschaften in der Flüchtlingskrise.

Der Weg seines Lebens ist der eines Dorfjungen zum einflussreichsten Politiker Ungarns seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Er steht in seiner dritten Amtszeit als Ministerpräsident. Er ist der eine Bezugspunkt, um den sich in ­Ungarn alles dreht. Ohne Orbán wüsste selbst die linke Opposition nicht, worüber sie reden sollte – sie erschöpft sich darin, ihn als Bösewicht zu verteufeln.

Viktor Orbán, 1963 geboren, verbrachte ­seine Kindheit in zwei kleinen Orten, gut 35 Kilometer westlich von Budapest. Er wuchs in einem einfachen Elternhaus auf, wie er selbst einmal sagte, «ohne jede Kultur». Der Vater war ein harter Mann, der ebenso hart ­arbeitete und den jungen Viktor mit körperlichen Züchtigungen erzog. Der Knabe verbrachte viel Zeit beim Grossvater. Der war glühender Patriot. Das scheint Orbán geprägt zu haben.

Der Junge verbrachte viel Zeit auf dem Bolzplatz. Fussball wurde für ihn zur Leidenschaft. Noch als Ministerpräsident blieb er eingetragener Spieler seines Heimatvereins ­Felcsút. Ein Nebeneffekt: Er kann unzählige Volks­lieder auswendig und singt noch heute mit, wenn gefiedelt wird. «Im Mannschaftsbus wurde unterwegs zu den Auswärtsspielen viel gesungen», erzählt er. Für Bücher kann nicht viel Zeit geblieben sein. Trotzdem reichte es für ein gutes Abitur.

Ideologie ist zweitrangig

Fussball und Volksmusik waren in Ungarn auch Politik. Die sogenannte Tanzhausbewegung war ein indirekter Protest gegen die kommunistische Tabuisierung nationaler Bezugspunkte. «Es war nationaler Widerstand», sagt Orbán. Als Ungarns Gol­dene Mannschaft 1954 knapp gegen Deutschland die Weltmeisterschaft verpasste, war das einer jener seltenen Momente, in denen im Dunkel des Kommunismus Nationalstolz aufblitzte. Bis heute sehnt sich Orbán ­danach, eine neue goldene Fussball­ära herbeizuführen. Er fördert den Bau neuer Stadien, schuf in seinem Heimatort Felcsút eine eigene Fussballakademie. Das dortige Stadion – finanziert von Firmen, die Orbáns Gunst nicht verlieren möchten – sieht aus wie eine ­Kathedrale im organischen Stil des mittlerweile verstorbenen Architekten Imre Makovecz.

Nach dem Abitur folgten zwei Jahre Militärdienst. Dort empörte Orbán die ­Ineffizienz der kommunistisch organisierten Armee. Er mag bis heute vor allem eines nicht: Dinge, die nicht funktionieren. Ideologie ist zweitrangig. So sieht er auch die heutige europäische Flüchtlingspolitik: Er lehnt sie deswegen ab, weil sie nicht funktioniert – so schön die moralischen Grundsätze auch sein mögen.

Es war die Zeit der polnischen Solidar­nosc-Bewegung gegen den Kommunismus. Orbán diente in einer Elite-Einheit, die den Kommunismus auch in «Bruderländern» verteidigen sollte. Die Soldaten wurden in Alarmbereitschaft versetzt und warteten auf ihren Marschbefehl nach Polen. Orbán hatte sich mit einem Rekruten aus einer intellektuellen Familie namens Gábor Fodor angefreundet, gemeinsam harrten sie der Dinge. Beide bewunderten die polnischen Widerständler. Fodor quälte der Gedanke, was er täte, wenn ihm befohlen würde, auf sie zu schiessen. Er beschloss, im Notfall zu de­sertieren, vertraute er später dem Orbán-Biografen Igor Janke an. Orbán hingegen über­legte kurz und entschied, sich keine Gedanken zu machen. Weil das Problem noch nicht da war. Er werde dann nachdenken, wenn eine Entscheidung nötig sei.Das ist bis heute sein Stil.

Nach dem Militär folgte das Jura-Studium. ­Fodor, immer noch an Orbáns Seite, war ein Geistesmensch, liberal, belesen, aus bürger­licher Familie. Für den weniger gebildeten ­Orbán wurde er zum Mentor. Er empfahl ihm ­Bücher, verstrickte ihn in Diskussionen über Geschichte, andere Länder, Literatur und philosophische Themen. Orbán sog alles auf. Über seine pragmatische, patriotische, ordnungs­orientierte Prägung aus der Kindheit legte sich ­eine Schicht liberaler Gedanken.

In diesen letzten Jahren des Kommunismus experimentierte Ungarn mit kleinen Portionen Freiheit. Das Bibó-István-Wohnheim, in dem Orbán und Fodor lebten, führte die Studentenselbstverwaltung ein. Das wurde für Orbán und seine Freunde, die in dieser Selbstverwaltung sassen, zum Labor: Die Debatten, der Wahlkampf vor Vorstandswahlen, Strategieentscheidungen – das alles nahmen sie bluternst, setzten sich durch, lernten, wie man durch Wahlen Macht erringt, erhält und ausübt. Orbán wurde natürlich Vorsitzender. Er und seine Freunde regierten das Wohnheim.

Heute regiert dieser Freundeskreis Ungarn. Der Staatspräsident (János Áder), der Parla­mentspräsident (László Kövér), der Ministerpräsident (Orbán) – sie alle waren Weggefährten in diesem Wohnheim. Auch Orbáns spätere Ehefrau Anikó Levai.

Kampfansage vor der Wende

Mehr als alle ideologischen Fragen ist es die erprobte Verlässlichkeit ihrer Freundschaft, die diesen engen Kreis zusammenhält. Von daher rührt zugleich der häufigste Vorwurf gegen ihn und die Partei: dass Posten nur an Freunde vergeben würden. Da ist viel dran – man vertraut nur einander. Bricht einer das Vertrauen, wird er bestraft. Wie der Geschäftsmann Lajos Simicska, bis 2014 Orbáns informeller Schatzmeister. Er machte Anstalten, selbst ein Machtfaktor werden zu wollen. Jetzt stürzen seine Firmen ab, Staatsaufträge für sie gibt es kaum noch.

Bald gründeten Orbán und seine Freunde ­eine Studentenvereinigung, aus der später die heutige Regierungspartei wurde. Die Polizei meldete sich deswegen bei ihm, und obwohl das noch im Kommunismus war und alle Angst vor der Staatssicherheit hatten, wurde der verdatterte Uniformträger von Orbán nur belehrt und lächerlich gemacht. Er hatte keinen Respekt vor der Macht.

Er hat nur Respekt vor Machern.Seine eigentliche Karriere als Politiker ­begann am 16. Juni 1989. Da hielt er als aus­gewählter Vertreter der ungarischen Jugend ­eine Rede vor Hunderttausenden Menschen, während weitere Millionen im Fernsehen zusahen. Der Text war nicht abgesprochen, ­Anlass war die Umbettung der sterblichen Überreste des ungarischen Ministerpräsidenten der Revolution von 1956, Imre Nagy, 31 Jahre nach dessen Hinrichtung.

«Meine Mitbürger», begann Orbán, und schon dieses Betonen des «Bürgerlichen» ­war in ­jenen Monaten vor der Wende eine Kampf­ansage. Er forderte freie Wahlen, den Abzug der Russen und sprach von Ungarns langem Kampf um Freiheit – gegen die Österreicher 1848 und ­gegen die Russen 1956. Nun sei es an der Zeit, diese «nie aufgegebenen Ziele der ­Nation» endlich durchzusetzen.

Gegen Fremdherrschaft

Alle, die es hörten, waren elektrisiert. Auch westeuropäische Liberale feierten ihn als den Mann ihrer Herzen. Sie hatten aber nicht genau hingehört: Freiheit war für Orbán nicht nur die individuelle Freiheit der Liberalen, sondern schon damals die kollektivere «Freiheit der ­Nation» gegen Fremdherrschaft. Das kam im Westen gut an, als es noch gegen die Russen ging. Heute verteidigt er die Spiel­räume der «ungarischen Nation» gegen Einmischung aus Brüssel. Das kommt weniger gut an, und ein wenig hat man wohl auch Angst, dass er Sand ins Getriebe bringt. Es erklärt vielleicht, warum er so angefeindet wird.

Er war dennoch auch liberal, teilweise aus ­jugendlichem Sturm und Drang, teilweise aus Verehrung für Ronald Reagans Amerika, das die Sowjets in die Knie gezwungen hatte. In den tieferen Schichten seiner Seele regte sich jedoch das, was er in seiner Rede forderte: nationale Selbstfindung und Selbstbestimmung.

Erst musste er sich selbst finden. Die freche Jugendlichkeit, mit der er seine Partei als ­«Liberaler» in die ersten Wahlen führte, gefiel den Ungarn aber vier Jahre später, 1994, schon nicht mehr. Es gab keinen Platz neben einer ­anderen, stärkeren liberalen Partei, dem damaligen «Bund Freier Demokraten» (SZDSZ). ­Zugleich kollabierte die konservative Partei der Wendezeit, das «Ungarische Demokratische Forum» (MDF). Raum für eine politische Zukunft war nur rechts. Orbán zwang seine Partei in eine neue, konservative Identität. Dar­an zerbrach seine Freundschaft mit Fodor, der liberal blieb und die Partei mit vielen anderen verliess.

Diese Wende war kein rein opportunistisches Manöver. Bei Orbán hatte ein Prozess konser­vativer Selbstfindung ­begonnen. Er wurde allmählich vom Kirchenverächter zum Christen. Ein wichtiger Einfluss war einerseits seine Frau Anikó Levai, eine gläubige Katholikin, die heute Flüchtlinge betreut, während ihr Mann als Flüchtlingshasser verteufelt wird, andererseits der reformierte Priester Zoltán Balog, den Orbán später zum Minister für ­Humanressourcen machte. Balog zelebrierte 1997 die kirchliche Trauung der beiden. Erst im Jahr 2000 war ­Orbán so weit, sich konfirmieren zu lassen.

Wenn man den Priester über das Christentum reden hört, versteht man, warum Orbán ihn mag: Da ist viel von der historischen Rolle des Calvinismus für das Überleben der ungarischen Na­tion unter fremden Herrschern die ­Rede (etwa unter den katholischen Habsburgern). Wenn man nach Orbáns seelischen Stützen in Stunden des Zweifels sucht, sind es wohl vor allem diese beiden, seine Frau, mit der er fünf Kinder hat, und der Priester.

Anikó Levai ist ein wenig wie er: Auch aus ­einer ländlichen Familie, auch Juristin, auch praktisch und nüchtern. Als sie nach Budapest kam, mochte sie die Milch nicht trinken, weil sie nicht direkt aus der Kuh kam und nicht schmeckte. Über Orbán und die Politik sagt sie, Politik sei ein Beruf wie jeder andere, da brauche es Kompetenz und Rechtschaffenheit: «Was im Privatleben richtig ist, ist auch im Beruf richtig.» Orbán zitiert diesen Satz gerne, allerdings aus dem Munde Helmut Kohls. Das sei dessen Antwort gewesen, als Orbán ihn einmal gefragt habe, wie er denn das Verhältnis zwischen Politik und Moral sehe. Er ist dennoch ein Praktiker der Macht, der auch vor den derberen Kraftgriffen des Handwerks nicht zurückschreckt. Insbesondere nicht davor, Schlüsselpositionen an Verbündete zu vergeben und bei Staatsaufträgen parteinahe Firmen zu bevor­zugen. Das hat er sich bei den Sozialisten ab­geschaut. Ältere, noch kommunistisch sozialisierte Richter liess er pensionieren, um Platz zu machen für seine Generation. Ohne ersicht­lichen Grund regelte er den Tabakmarkt neu, Lizenzen gab es gemäss Medien vorwiegend für treue Gefolgsleute überall im Land.

Aber er fragt sich auch immer, was er mit der gefestigten Macht tut, wozu sie dient, wohin die Reise gehen soll. In den Medien fragt man sich meistens nicht, was ihn bewegt. Und noch weniger, ob er auch Positives geleistet hat. ­Lieber bedient man das Klischee vom bösen, machthungrigen Menschen.

Ein kleines Deutschland

Dabei würde es sich lohnen, darüber nach­zudenken. In seiner ersten Regierungszeit, von 1998 bis 2002, versuchte er, aus Ungarn ein kleines Deutschland zu machen. Aber nach seinem zweiten Wahlsieg 2010 erkannte er, dass er sein Land in einer neuen Welt führen muss, die sich rapide verändert. Nach der Wirtschaftskrise 2008 und in der Flüchtlingskrise jetzt ist nichts mehr, wie es einst war.

Seine Antwort ist die Zentralisierung der Macht, um in der globalisierten Welt schneller und durchgreifender auf ­Krisen reagieren zu können. «Neomerkantilismus» nennt er seine protek­tionis­tische Wirtschaftspolitik; er will multi­nationale Konzerne, wo es geht und Sinn macht, zurückdrängen, mehr nationalstaat­liche Lenkung, den einheimischen Mittelstand fördern. Einen «illiberalen Staat», wie er letztes Jahr sagte – und damit einem Skandal ver­ursachte (siehe Seite 21).

Die Antwort Deutschlands und anderer EU-Mächte auf die Herausforderung der ­Globalisierung ist es hingegen, die Wirtschaft zu liberalisieren und mehr politische Macht in Brüssel zu zentralisieren: «Mehr Europa.» Das ist ein Widerspruch, die Wurzel allen ­Ärgers zwischen Orbán und den Europäern. Orbán ist überzeugt, dass er ­richtigliegt. Dass die Geschichte nicht in Richtung eines europäischen Superstaates geht. Wenn doch, wird er eines ­Tages nicht mehr der Geeignete sein, um ­Ungarn zu führen.