London

Seit Kriegsausbruch Ende Februar wird oft von den historischen Bindungen zwischen Russland und der Ukraine gesprochen, auch um Putins imperialen Anspruch auf die Ukraine zu kontern. Diese Fokussierung auf Russland führt aber dazu, dass die gemeinsame Geschichte Polens und der Ukraine aus dem Blickfeld gerät.

Die Ukraine gehörte länger zum polnischen Staat als zu Russland – und das muss bedacht werden, wenn man verstehen will, warum die Ukrainer anders sind als die Russen. Mit anderen Worten, die Geschichte der Ukraine erschliesst sich erst, wenn neben den russischen auch die polnischen Einflüsse betrachtet werden.

Vor tausend Jahren gab es die Bezeichnung Ukrainer noch nicht. Die Bewohner der «Ukraina» (das heisst «am Rand» oder «Grenzland») bezeichneten sich als Russinen beziehungsweise Ruthenen, und ihr Land, das vom alten Kiew aus regiert wurde, war die «Kiewer Rus». Diese Russinen waren die Vorfahren dreier moderner ostslawischer Nationen – Belarussen im Norden, Ukrainer im Süden und Moskowiter im Osten –, und aus ihrer Sprache entwickelte sich das Belarussische, das Ukrainische und das Russische. Entscheidend ist, dass die Russinen (in einer Zeit, in der die Bezeichnung Russland noch gar nicht existierte) keine Russen waren. Und die meisten von ihnen haben lange und hartnäckig gegen die Moskauer Herrschaft gekämpft.

Aneignung der Geschichte

Aber auch der zunehmenden Macht Polens mussten sie sich erwehren. Im Jahr 1018 überfiel der polnische König Boleslaw der Tapfere die Rus und schlug sein Schwert an das Goldene Tor von Kiew, bevor er den Rückzug antrat. Fortan spielte dieses Schwert, Szczerbiec, bei allen Krönungsfeierlichkeiten in Krakau eine wichtige Rolle.

Im 15. Jahrhundert, lange nach der Zerstörung der Kiewer Rus durch die Mongolen, nahm der wachsende Stadtstaat Moskau bedauerlicherweise eine religiös grundierte Ideologie an, laut der Moskau nicht nur der einzig legitime Erbe der Rus war, sondern auch das «Dritte Rom» (in der Nachfolge der Ewigen Stadt und des griechischen Byzanz). Im Ergebnis mussten alle orthodoxen Slawen den Moskauer Zaren und Patriarchen anerkennen, da alle Ruthenen als ein unter Moskauer Herrschaft stehendes Brudervolk galten. Als sich das Grossfürstentum Moskau 1721 in das Russische Reich verwandelte (unter dem hellenisierten Namen Rossija), erschien die Kiewer Rus in dieser rückwärtsgewandten Moskauer Geschichtsversion als Kiewer Russland, und alle Russinen sollten fortan Russen sein, so wie Putin das heute behauptet. Die Russen eigneten sich die komplette Geschichte und Identität der Ukraine an und bezeichneten die ukrainischen Russinen fortan als «Klein-Russen». Politisch denkende Leute in der Ukraine, die sich dieser imperialistischen Übergriffigkeit nicht beugen wollten, griffen in der Folge zur geografischen Bezeichnung «Ukrainer».

Nicht minder bedauerlich ist, dass die meisten westlichen Historiker sich bei diesem Thema vor allem auf russische und nicht auf ukrainische oder polnische Quellen stützen. Bei Ausländern, die nichts anderes als russische Propaganda kennen, ist die Russophilie besonders ausgeprägt.

In den Jahrhunderten zwischen dem Fall der Kiewer Rus und dem Aufstieg des Zarenreichs waren ukrainische Russinen und Polen nicht so sehr Nachbarn als vielmehr Bürger eines gemeinsamen Staates. Im 14. Jahrhundert, nach dem Zerfall der Goldenen Horde, kamen beide slawischen Nationen unter die Herrschaft der Jagiellonen. Deren Dynastie begann 1386 mit der Vermählung einer polnischen Königin mit dem litauischen Grossfürsten Jogaila, wodurch der langlebige Doppelstaat Polen-Litauen entstand, seinerzeit der grösste in ganz Europa. Der westliche Teil dieses Staats, die Polnische Krone oder Korona, wurde überwiegend von Polen bewohnt, während der östliche Teil, das Grossfürstentum, von ethnischen Litauern besiedelt wurde, die Mitte von belarussischen und der Süden von ukrainischen Russinen. Die Jagiellonen, in Personalunion Könige von Polen und Grossfürsten von Litauen, regierten ihr Reich von Krakau aus, 800 Kilometer von Kiew entfernt. Ihre Macht erstreckte sich von Pommern bis an die Grenzen der Moskauer Herrschaft und von der Ostsee bis ans Schwarze Meer («von Meer zu Meer»).

Kiew wurde 1667 von Moskau eingenommen, aber der Rest blieb in polnischer Hand.

Kampf gegen die Krimtataren

Nach dem Tod des letzten Jagiellonen im Jahr 1572 wurde der polnisch-litauische Staat in eine konstitutionelle Rzeczpospolita («Gemeinwesen») umgewandelt, die sogenannte Adelsrepublik, die von Warschau aus regiert wurde. In dieser Konfiguration kam die gesamte Ukraine zum Königreich Polen, und obschon die Russen sich regelmässig ukrainische Gebiete aneigneten, blieb der grösste Teil der Ukraine bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bei Polen. Die Stadt Kiew beispielsweise wurde 1667 von Moskau eingenommen, aber der Rest der Wojwodschaft Kiew blieb bis 1793 in polnischer Hand. Bis dahin besass der letzte König von Polen eine Residenz im Schloss von Kaniw/Kaniów am Dnjepr in der Zentralukraine, wo er seine einstige Geliebte, Katharina die Grosse, empfing.

In den langen Jahrhunderten polnischer Herrschaft machten die Ukrainer unweigerlich Erfahrungen, wie sie die Russen nie erlebt haben. Und diese prägenden Einflüsse verhalfen den Ukrainern zwangsläufig zu einer deutlich anderen Haltung.

So liess sich beispielsweise eine Gemeinschaft von Kosaken am Unterlauf des Dnjepr nieder, die gegen die polnische Herrschaft aufbegehrten. Von ihrer sicheren «Sitsch» aus, dem Stützpunkt auf einer Insel hinter den Stromschnellen des Dnjepr, kämpften sie gegen die königliche Armee und die Krimtataren. 1775 wurde dieser Kosakenstaat von russischen Truppen zerschlagen.

Im ukrainischen Adel kam es zu einer weitgehenden Polonisierung – Polnisch war die Verwaltungssprache der Rzeczpospolita. Infolgedessen beschränkte sich das ukrainische Nationalbewusstsein weitgehend auf die niederen, bäuerlichen Stände, die bis 1861 in der Mehrheit ungebildete Leibeigene waren. Anders als bei den Polen (oder Russen), deren nationale Identität von einer breiten Adelsschicht und Vertretern eines vitalen Geisteslebens kultiviert wurde, war die ukrainische Nation, sozial führungslos, im Grunde eine proletarische Unternehmung.

Die orthodoxen Russinen waren traditionell dem griechischen Patriarchen von Konstantinopel in Treue verbunden. Im 16. Jahrhundert wurden sie von polnischen Jesuiten gedrängt, sich zum römischen Katholizismus, und von Moskau, sich zur russischen Orthodoxie zu bekennen. Ihre Reaktionen waren gemischt. In der Westukraine, unter polnischem Einfluss, wurden viele von ihnen griechisch-katholische Unierte, die an ihrem alten byzantinischen Ritus festhielten und zugleich den Papst als Patriarchen anerkannten.

Dank der polnischen Könige bildete sich in der Ukraine eine grosse jüdische Gemeinschaft heraus, die wichtige kommerzielle und administrative Funktionen übernahm. In Kleinstädten oder Dörfern befand sich der Wohnsitz eines polnischen Grundbesitzers typischerweise neben einem kleinen Schtetl und war umgeben von Parzellen ruthenischer Bauern. Dies führte dazu, dass Juden von den Bauern als Verbündete ihrer verhassten polnischen Herrschaft betrachtet wurden. Im Massaker von Uman 1768 wurden Polen und Juden in Kirchen beziehungsweise Synagogen zusammengetrieben und bei lebendigem Leib verbrannt.

Die grosse Hungersnot

Die Ukrainer übernahmen viele polnische Wörter und Wendungen. «Ja» heisst auf Russisch da, aber die Ukrainer sagen tak (wie die Polen), und es gibt noch zahllose andere Polonismen. Später, als Russisch zwangsweise durchgesetzt und das Ukrainische verboten wurde, gingen viele Ukrainer dazu über, im Alltag ein Mischmasch aus Russisch und Ukrainisch zu sprechen, das sogenannte Surschyk.

Die ukrainisch-polnischen Beziehungen haben sich aufgrund von Putins Krieg deutlich verbessert.

Im 19. Jahrhundert, nach dem Ende des polnisch-litauischen Staates, wurden Ukrainer und Polen ausgesprochene Rivalen. Beide entwickelten Nationalbewegungen, verteidigten ihre bedrohte Kultur, strebten nach Anerkennung, Territorium und letztlich Unabhängigkeit. Die Ukrainer orientierten sich oft an dem starken polnischen Vorbild und wehrten sich zugleich gegen polnische Ansprüche auf Provinzen wie Wolhynien oder Galizien. 1918 wurden beide Nationen unabhängig und bekamen es sogleich mit den Bolschewiki zu tun. Die Ukrainische Republik ergab sich 1921 dem Ansturm der Bolschewiki, trotz eines kurzzeitigen Bündnisses mit den Polen, während die Republik Polen unter Marschall Józef Pilsudski sich behaupten konnte.

In den Zwischenkriegsjahren gehörten die meisten Ukrainer zur Sowjetunion, wo sie vielerlei repressive Massnahmen erdulden mussten, darunter Einschränkungen ihrer Sprache, die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, den Holodomor (die grosse Hungersnot 1932 bis 1933) und massenhafte Verfolgung während der Jahre des Grossen Terrors. Die ukrainische Minderheit in Polen kämpfte 1918 bis 1919 einen aussichtslosen Krieg in Galizien, konnte keine kulturelle Gleichberechtigung erreichen und erlebte in den 1930ern eine brutale «Pazifizierungskampagne». Sie konnte sich zu Recht als die am schlechtesten behandelte Minderheit in Polen bezeichnen, aber ihr bedauernswertes Schicksal ist nicht zu vergleichen mit den Gräueltaten, die in der Sowjetunion an den Ukrainern verübt wurden.

Deportationen und Gleichschaltung

Während des Zweiten Weltkriegs gerieten Ukrainer und Polen in die Vernichtungsmaschinerie von Nazis und Kommunisten. Zwischen 1939 und 1941, solange Stalin noch Hitlers Komplize war, wurden beide Völker Opfer der stalinistischen Unterdrückung in der Westukraine, mit Massenhinrichtungen, Deportationen und Gleichschaltung.

Zwischen 1941 und 1943, als die Ukraine und Polen von deutschen Truppen besetzt waren, wurden diese Territorien zum Zentrum der Bloodlands, wo Massaker aller Art verübt wurden. Die Juden wurden während des Holocaust vernichtet, just dort, wo sie jahrhundertelang Schutz gefunden hatten. Mehr als zehn Millionen Ukrainer kamen in der einen oder anderen Weise ums Leben – deutlich mehr als die Verluste unter der russischen Zivilbevölkerung. Und Polen verlor einen grösseren Anteil der Bevölkerung als jeder andere Staat. Was die Kollaboration mit den Nazis betrifft, so gab es eine ukrainische Division, die 14. Waffen-Grenadier-Division Galizien der SS, bestehend aus polnischen Bürgern. Die sehr viel grössere Russische Befreiungsarmee von General Wlassow, die hauptsächlich aus Russen bestand, kämpfte an der Seite der Nazis.

Während des Vormarschs der Roten Armee in Richtung Westen 1943 bis 1945 wiederholte Stalins Geheimpolizei NKWD die Schrecken der dreissiger Jahre hinter der Front. Wer nicht eindeutig für die Sowjetmacht war, galt als zu vernichtender Feind. Derweil führte eine ukrainische Untergrundgruppe eine ethnische Säuberungskampagne durch, der mehr als 100 000 Polen zum Opfer fielen. Insgesamt wurden mehrere Millionen Polen vertrieben. Kaum jemand glaubte an eine «Befreiung» durch die Sowjets. Während die Rote Armee im Januar 1945 das KZ Auschwitz befreite, wurden im nahegelegenen KZ Majdanek gefangengenommene Angehörige der polnischen Heimatarmee vom NKWD umgebracht.

1947 wurde die ukrainische Minderheit im Rahmen der «Operation Weichsel», einer ethnischen Säuberungsaktion, von den polnischen Kommunisten in die ehemaligen deutschen Ostgebiete zwangsdeportiert, die nun zu Polen gehörten.

In den Nachkriegsjahren war die Grenze zwischen der Volksrepublik Polen und der Ukrainischen Sowjetrepublik hermetisch abgeriegelt, vergleichbar dem Eisernen Vorhang. Ukrainer und Polen wurden auseinandergerissen, neue Generationen wuchsen heran, Erinnerungen verblassten.

Putins «grüne Männchen»

1991 stimmten 91 Prozent der Ukrainer für jene Unabhängigkeit und Demokratie, wie sie die Gewerkschaftsbewegung Solidarno für das benachbarte Polen bereits erkämpft hatte. Doch das Erbe von Korruption sowjetischen Stils, der wirtschaftliche Niedergang, der Einfluss der Oligarchen und die Macht exkommunistischer, prorussischer Politiker wie Präsident Wiktor Janukowytsch – das alles liess sich nicht so leicht abschütteln. Während Russland mit seinem eigenen postsowjetischen Chaos zu kämpfen hatte, beobachtete Putin mit Freude, dass die Ukraine nicht vorankam. Erst nach zwei «Revolutionen» – der Orangen Revolution von 2005 und der Revolution der Würde von 2014 – konnte die Ukraine sich befreien und ihren eigenen Weg gehen. An dem Tag, an dem Präsident Janukowytsch die Flucht ergriff, protestierten russische Separatisten auf der Krim. Drei Tage später tauchten Putins «grüne Männchen» auf.

Heute haben sich die ukrainisch-polnischen Beziehungen aufgrund von Putins Krieg deutlich verbessert. Die Polen spüren instinktiv, dass die Ukrainer unter der gleichen Brutalität leiden, die sie wiederholt von russischer Seite erlebt haben.

Diese historische Entwicklung ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, wie spannungsreich die ukrainisch-polnischen Beziehungen einst waren. Nutzniesser dieser Konflikte war vor allem Russland. Wie es scheint, hat Putins Angriffskrieg die beiden lange Zeit zerstrittenen Nationen endlich zusammengeführt.

 

Norman Davies ist emeritierter Professor am University College London, Honorary Fellow am St Antony’s College in Oxford und Autor mehrerer Bücher über polnische und europäische Geschichte.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Dieser Artikel ist zuerst im Spectator erschienen.

In der Ausgabe 22/22 vom 2. Juni ist ein grosses Weltwoche-Gespräch mit Professor Davies erschienen, abrufbar unter: weltwoche.ch