Letzte Woche bestrafte das Regionalgericht in Boudry NE eine Somalierin wegen «Verstümmelung weiblicher Genitalien» (Art. 124 StGB) zu acht Monaten Gefängnis bedingt. Die Angeklagte hatte ihre beiden Töchter im Alter von fünf beziehungsweise sechs Jahren beschneiden lassen, in einem Fall nach einer besonders brutalen Variante («Pharaonische Inzision» im Fachjargon). Das Gericht masse sich nicht an, «die Situation fundamental zu ändern», kommentierte die Richterin den Schuldspruch, aber sie hoffe, damit wenigstens einen kleinen Beitrag geleistet zu haben.

Von geschätzten 200 Millionen Frauen, die weltweit eine Genitalverstümmelung erlitten haben, dürften 14 700 in der Schweiz leben. In Somalia, Eritrea, Äthiopien oder Ägypten sollen bis zu 98 Prozent der Frauen beschnitten worden sein. Die Schweiz hat deshalb bereits 2012 den Artikel 124 des Strafgesetzbuches eingeführt, der auch im Ausland begangene Mädchenbeschneidungen unter Strafe stellt. Man will damit verhindern, dass Zuwanderer aus dem östlichen Afrika ihre Töchter zur Beschneidung in ihre Heimat schicken.

Sechs Jahre nach der Einführung der Gesetzesnovelle haben wir nun endlich einen konkreten Fall. Das Bedürfnis, ein Zeichen zu setzen, war übermächtig. Nur ist dies nicht die primäre Aufgabe der Justiz. Ein Strafurteil muss zuallererst dem Verschulden eines Angeklagten gerecht werden. In diesem Licht erscheint das Verdikt mehr als fragwürdig.

Als die angeklagte Somalierin mit ihrem vierten Kind schwanger war, reiste ihr Ehegatte 2008 in die Schweiz ein. Ob die beiden Töchter auf Initiative der Mutter oder der Grossmutter 2013 beziehungsweise 2015 unters Messer kamen, ist umstritten. Aber dies ist nicht der entscheidende Punkt. Denn damals wusste die Somalierin – eine Analphabetin, die selber beschnitten und mit vierzehn Jahren verheiratet wurde – nicht, dass sie 2016 mit den Kindern zu ihrem Gatten in die Schweiz nachreisen würde. Sie konnte auch nicht wissen, dass ihren Töchtern etwas angetan wurde, was in der Schweiz als Verbrechen geahndet wird.

Vermeintliches Signalurteil

In Somalia wird die Genitalverstümmelung traditionell als Pflicht einer fürsorglichen Mutter betrachtet. Unbeschnittene Frauen gelten als Prostituierte, sie sind einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, gesteinigt zu werden. Nun hat Somalia zwar die Mädchenbeschneidung in der «provisorischen Verfassung» von 2012 geächtet. Nur wurde dieses Bekenntnis nie umgesetzt. Es gibt weder ein Gesetz, das den fürchterlichen Brauch unter Strafe stellt, noch wurde je eine Beschneiderin verurteilt.

Der Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass es keine Strafe ohne Gesetz gibt – und dass das Gesetz für alle gleichermassen gilt. Folgt man der Logik des Schuldspruchs von Boudry, müsste jedes Mädchen, das aus Ostafrika einreist, medizinisch untersucht werden. Würde eine Genitalbeschneidung diagnostiziert, müssten die Eltern vor Gericht gestellt werden. Eine groteske Vorstellung.

Es waren denn auch nicht die Ärzte, die im aktuellen Fall den Anlass zur Anklage gaben, es war der Ehegatte. Wenige Monate nach ihrer Ankunft in der Schweiz trennte sich die Frau von ihm und zeigte den Mann wegen gewalttätiger Übergriffe an. Der verstossene Gatte rächte sich mit einer Strafanzeige wegen Genitalverstümmelung. Im Falle einer Verurteilung drohte der Frau ein Landesverweis. Das ist der erbärmliche Hintergrund des vermeintlichen Signalurteils von Boudry.

Weiche Prinzipien

Soweit bekannt, ist dies die dritte Verurteilung wegen Mädchenbeschneidungen in der Schweiz. Die beiden anderen Schuldsprüche erfolgten vor der Einführung von Artikel 124 StGB. Schaut man sich die Umstände genauer an, überzeugt keines dieser Urteile.

Im Juli 2008 wurde eine 50-jährige Somalierin im Kanton Freiburg wegen «Unterlassung der Fürsorgepflicht» zu einer bedingten Strafe verurteilt. Die Angeklagte lebte seit 1993 in der Schweiz und liess später ihre Halbschwester nachreisen, die sie fälschlicherweise als Tochter deklarierte. Als das Kind im Alter von dreizehn Jahren rebellierte, schickte sie den Teenager vorübergehend zurück zur Mutter in seine Heimat. Dort wurde das Mädchen beschnitten. Das war aber nie das Ziel der mit der Erziehung überforderten Angeklagten gewesen. Ihr wurde nur zur Last gelegt, sie hätte mit der Genitalverstümmelung rechnen müssen, als sie ihre Halbschwester nach Somalia schickte.

Im gleichen Jahr wurde im Kanton Zürich ein somalisches Ehepaar wegen «Anstiftung zu schwerer Körperverletzung» zu je zwei Jahren Gefängnis bedingt verurteilt. Es hatte seiner Tochter 1996 durch einen afrikanischen Wanderarzt die Klitoris beschneiden lassen. Die Familie lebte erst wenige Jahre in der Schweiz. Das Gericht attestierte den Eltern, dass ihnen damals die gesetzliche Lage nicht bekannt war und dass sie im Glauben handelten, das Richtige zu tun. Im Rahmen eines Einbürgerungsgesuchs hatten die reumütigen Eltern 2007 von sich aus eingeräumt, dass sie ein Verbrechen begangen hätten. Sie brachten damit das Verfahren selber ins Rollen. Auch das Zürcher Gericht erklärte, man habe mit dem Verdikt «ein Zeichen setzen» wollen.

Wenn es Zeichen zu setzen gilt, werden die heiligsten Prinzipien des Rechtsstaats so weich wie Gummi. Auch das ist ein Zeichen, allerdings kein beruhigendes.