Weltwoche: Sie waren Ehrenstarter an der ersten Etappe der diesjährigen Tour de Suisse in Küsnacht. Was war Ihr Eindruck?

Urs Freuler: Ich spürte eine Begeisterung für den Radsport wie zu meinen Zeiten, als die Tour de Suisse einer der wichtigsten Termine im Sportkalender war. Die neue Popularität hat auch viel mit der Schweizer Klasse zu tun. Sobald es wieder zwei, drei einheimische Fahrer wie Stefan Küng, Marc Hirschi oder Gino Mäder gibt, die vorne mitmischen können, lässt sich das Volk schnell begeistern. Grundsätzlich hat der Radsport von der Pandemie profitiert. Der Trend geht ganz klar zu Aussensportarten, in denen man der Natur nahe ist. Ausserdem hat die Etablierung des Elektrovelos den Sport einer ganz neuen Kundschaft eröffnet. Nun können auch Pärchen oder grössere Gruppen von unterschiedlichem Niveau zusammen ausfahren.

Weltwoche: Sie als Ex-Profi fahren aber wohl kein Elektrovelo . . .

Freuler: . . . und ob! (Lacht) Ich bin oft mit meiner Frau Mareile unterwegs. Und da geht es nicht mehr um Tempo und Leistung, sondern um meine drei persönlichen Gs: geniessen, gemütlich, gemeinsam. Dasselbe gilt auch für die Velowochen, die ich auf Mallorca organisiere. Es macht mir grossen Spass, Radsportbegeisterte über diese schöne Insel zu führen. Dabei profitieren wir von der Infrastruktur meines Kollegen Max Hürzeler (früherer Steher-Weltmeister; die Red.). Künftig möchte ich dieses Engagement noch vergrössern.

Weltwoche: An der Tour de Suisse hat Sie das Schweizer Fernsehen mit einem besonderen Beitrag überrascht . . .

Freuler: . . . tatsächlich. Ich erfuhr, dass ich die schnellste Etappe in der Geschichte überhaupt gewonnen habe – an der Tour 1983 von Davos nach Sargans mit Spitzengeschwindigkeiten von 90 km/h und einem Durchschnittswert von 46,6 km/h. Es war nur eine Halbetappe, und sie führte aufgrund der kurzen Distanz zu gewissen Irritationen bei einzelnen Fahrern. Aber ich erkannte in der Topografie meine grosse Chance – und packte sie. Im Vorfeld besichtigte ich übrigens die Ankunft mit meinem Trainer Sepp Helbling und wies meine Teamkollegen an, wie sie mich zum Ziel heranführen sollten. Dass dies aber eine Leistung für die Geschichtsbücher gewesen war, erfuhr ich erst jetzt. Und das hat mich sehr gefreut. Ich gewann damals auch die Schlussetappe auf der offenen Rennbahn.

Weltwoche: Als langjähriges Mitglied der Atala-Equipe waren Sie auch in Italien ein grosser Star. Spüren Sie dies heute noch?

Freuler: Überraschenderweise schon, obwohl meine grossen Zeiten nun schon rund vier Jahrzehnte zurückliegen. Als ich vor einigen Jahren an eine Giro-Etappe nach Meran eingeladen wurde, staunte ich, wie viele Fans mich noch mit «Hey Freuler» begrüssten. Das berührt mich. Und es zeigt mir auch, wie gross unser Sport noch immer ist.

Weltwoche: Wie stark hat der Radsport unter der Doping-Problematik gelitten?

Freuler: Viel weniger stark, als dies die Medien dachten. Die Menschen strömten immer an die Radrennen. Bei den grossen Rennen bleibt fast kein Platz am Strassenrand leer. Das sah man nun auch an der Tour de Suisse. Ich bin der Meinung, dass der Radsport in dieser ganzen Angelegenheit auch viel zu stark an die Kasse kam. Bei anderen Sportarten, wo es auch enorm physisch zu- und hergeht, findet diese Diskussion erstaunlicherweise nicht statt.

Weltwoche: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Freuler: Mehr Zeit und Freiraum. Momentan stehe ich noch jeden Tag in meinem Geschäft in Altendorf. Das macht mir Freude – und wenn ein grosses Radsportereignis stattfindet, schauen wir es auf dem Grossbildschirm im Laden. Aber ich möchte einen Gang zurückschalten, mehr Zeit mit meiner Frau verbringen und mich verstärkt auf die Velowochen auf Mallorca konzentrieren. Auch als Fast-AHV-Bezüger macht mir der Radsport noch immer grosse Freude.

Der 63-jährige Biltener holte als Radprofi zehn Weltmeistertitel auf der Bahn, 21 Siege an Sechstagerennen, gewann Etappen am Giro d’Italia (15), an der Tour de France (3) und der Tour de Suisse (9). Zweimal (1982 und 1983) wurde Urs Freuler zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt.