Man kann die Gegenwart nicht verstehen, wenn man die Vergangenheit nicht kennt. Deshalb kehren wir jetzt ins Jahr 518 zurück und richten unser Auge auf einen 42-jährigen Mann namens Lucius Sentius. Er wohnt in Vindonissa-Septentriones, dem heutigen Windisch-Nord. Aus ethnischer Sicht ist Sentius ein keltischer Helvetier, aber er selbst hält sich für einen Römer. Denn er spricht Lateinisch, kleidet sich nach römischer Mode und hat zu Hause im Garten einen kleinen Froschteich, den er «thermae» nennt. Täglich badet er darin, und wenn die Frösche ihn stören, ruft er seine Frau Callista, die dann mit einem Stock auf die Frösche einschlägt. Eigentlich wäre das die Arbeit eines Sklaven, aber Sentius kann sich Sklaven nicht leisten, deshalb hat er geheiratet. Callista ist auch Helvetierin, ihr keltisches Erbe zeigt sich an ihren roten Haaren, die sie unter einer dunkelbraunen Echthaar-Perücke versteckt. Nach dem Bad kehrt Sentius in seine Hütte zurück, die er «villa» nennt und für die er eigenhändig eine Bodenheizung gebastelt hat. Das Funktionsprinzip der Bodenheizung ist, dass Callista in einem grossen Kessel permanent Wasser kocht, das sie dann über den kalten Fussboden giesst. Sentius arbeitet noch an einer Verbesserung der Heizung, aber zuerst möchte er den Aquädukt fertigstellen, den er in seinem Hobbykeller aus alten römischen Soldatensandalen in Leder nachgebaut hat und den er im «atrium» aufstellen will. Die Sandalen waren im Dutzend billig zu haben, denn die römischen Legionäre haben sie ausgezogen, um schneller vor den einfallenden Alemannen davonrennen zu können. Seither machen diese Alemannen sich in Vindonissa breit.

Sentius nennt sie die «hurum-siechums», weil sie in ihrer unverständlichen, kehligen Sprache dauernd so etwas Ähnliches sagen. Oft sagen sie auch «gopfertamme» oder «chumme morne wider». Zum Beispiel hat Sentius Callista gestern zum Bäcker geschickt, der früher ein anständiger helvetischer Römer war, der römische Brote gebacken und sie auch auf Lateinisch verkauft hat. Aber gestern kam Callista ohne Brot zurück und sagte, der Bäcker sei jetzt ein Alemanne und habe gesagt: «Gopfertamme, chumme morne wider.» Für Sentius ist klar: Die Alemannen wollen alles Brot für sich und ihre Kinder! Davon haben sie ja an jedem Finger zehn! Am Anfang waren ja nur ein paar alleinstehende Krieger mit verlausten Bärten hier, und die gaben sich zuerst noch Mühe, ein paar Brocken Latein zu lernen. Aber dann holten sie ihre Frauen und Wagenladungen voller kleiner Hurum-Siechums nach. Nicht, dass es in Vindonissa noch eine Schule gäbe – aber wenn es eine gäbe, würden dort zwanzig kleine Alemannen sitzen und nur noch zwei oder drei helvetische Römerkinder!

Aber nicht alle Einheimischen sehen die Entwicklung so schwarz wie Sentius. Sentius’ jüngerer Bruder Secundus zum Beispiel sagte vor ein paar Wochen, als die beiden nebeneinander im Froschteich sassen: «Quod suus iustus temporis processu.» Secundus glaubt also, dass diese Einwanderung halt der Lauf der Zeit sei. Secundus hat an der Aussenmauer seines Hauses sogar ein Graffito angebracht: «Alamane willckom.» Daraufhin wurde in sein Haus binnen drei Wochen fünf Mal eingebrochen, und jedes Mal lagen lange dunkelblonde Barthaare und angenagte Käsestücke am Tatort, die typischen Attribute der Fremden. Aber das bestreitet Secundus natürlich! Er behauptete, die Einbrecher seien helvetische Römer gewesen, die sich dunkelblonde Bärte angeklebt hätten. «Sic», sagte Sentius, «ubi caesum habes?» («Soso, und woher hatten sie den Käse?») Es waren nämlich Käsestücke mit Löchern, und den stellen nur die Hurum-Siechums her, sie nennen es «Hemmen Talmer». Nein, für Sentius steht fest: Das kann nicht gutgehen. Er muss etwas tun! (Ad continuandum) . . .