Die Pandemiejahre waren fette Jahre für den Tessiner Tourismus. Die wichtigste Klientel, die Deutschschweizer, konnten oder wollten zwischen 2020 und 2023 nicht ans unsichere Mittelmeer. Also wählten sie nach dem Lockdown in Massen die helvetische Variante von Palmen und Strand: die Sonnenstube Tessin, das heimische Sinnbild für den Traum vom Süden. Die Zahl gebuchter Hotelzimmer und Ferienwohnungen schoss damals während der Sommermonate teils in sagenhafte Höhen.

Kürzlich haben die fünf Tessiner Tourismusorganisationen Bilanz gezogen, und der Trend ist klar: Die Übernachtungszahlen für heuer liegen leicht über denen des Vorpandemiejahres 2019, das ein mittelmässiges Jahr war.

Die Deutschschweizer Touristen sind 2024 wieder zahlreicher ans Mittelmeer geströmt. Zumal der so starke Franken Ferien im Ausland deutlich billiger werden lässt. Ausserdem musste das Tessin viel Wetterpech erdulden. Zuerst vermieste ein endlos verregneter Frühling die Lust auf den helvetischen Süden – und dann folgte Ende Juni die verheerende Flutkatastrophe im Maggiatal, die leider auch Todesopfer forderte. Etliche Bahntouristen blieben auch weg wegen der einjährigen Schliessung des Gotthard-Basistunnels bis letzten September.

 

Atmosphäre heiterer Ruhe

All das hat einen neuen Trend befeuert: Besonders Ausflügler und Wochenendtouristen treffen ihre Reiseentscheidung kurzfristig, abhängig vom Wetter. Dieses Verhalten kam ab Ende 2016 mit der Eröffnung der schnellen Neat-Bahnverbindung durch den Gotthard auf, zusätzlich beeinflusst durch die günstigen vorpandemischen Last-minute-Flugangebote.

Wie wollen also die Tessiner Tourismusanbieter das Jahr 2025 anpacken? Den Sommer verlängern, hiess es bis vor kurzem im Grossraum Locarno. Das war angesichts des wärmeren Südklimas auch nicht schwierig. Doch jetzt lautet die Parole: den Herbst verlängern. Offenbar liegen Outdoor-Tätigkeiten wie Wandern, Mountainbiking, Klettern, Bergläufe und Trekking bei den Touristen aus dem Norden voll im Trend. Das sind klassische Aktivitäten für den Herbst, der im helvetischen Süden klar wärmer ist und sogar bis Ende November recht mild bleiben kann. Also erweitern immer mehr Tourismusakteure das entsprechende Angebot.

Aber ein verlängerter Herbst ist nicht der letzte Schrei. Letzten Winter haben die Touristiker eine unübliche Zunahme an Übernachtungen im Dezember und Anfang Januar festgestellt. Und zwar in den Hotels wie auch in den vielen Zweitwohnungen, besonders im Raum Locarno. Der Tessiner Weihnachtstourismus scheint zu wachsen, während der Sommertourismus schrumpft. Das hat eine gewisse Logik. Denn der warme Herbst geht im Südkanton gern in einen milden, schneearmen Winter über, der für gewöhnlich mit keinen Wetterkapriolen aufwartet. Das erleichtert die Wahl der vielen Reiselustigen, die kurzfristig entscheiden.

Ist das Tessin also auch im Winter die Sonnenstube der Schweiz? Gerade in der kühlen Jahreszeit wartet der Südkanton mit sehr viel mehr Sonnentagen auf als die Deutschschweiz. Denn der für den Norden typische Hochnebel ist im Tessin so selten, dass die Medien fasziniert darüber berichten, wenn er sich doch einmal zusammenbraut.

Das südliche Winterlicht ist schlicht magisch. Es sorgt für wunderbar scharfe Landschaftskonturen, überraschende Schattenwürfe und schafft eine Atmosphäre heiterer Ruhe. Und diese Sonnigkeit trägt viel zur Tessiner Lebensqualität bei. Das Winterlicht im Südkanton regt verstärkt die Produktion von Vitamin D an, dank dem das Immunsystem besser arbeitet. Mehr Sonne bedeutet auch mehr Lebenslust, und dazu gesellt sich noch eine mediterran geprägte, gesunde Küche. Kein Wunder, leben im schweizweiten Vergleich die meisten Neunzigjährigen und noch ältere Menschen im Tessin.

Mehr Sonne bedeutet mehr Lebenslust, dazu gesellt sich eine mediterran geprägte Küche.

Vermutlich werden 2025 die sommerlichen Gästezahlen weiter schrumpfen. Also macht das Zauberwort «Wintertourismus» immer mehr die Runde im Südkanton. Aber die touristischen Anbieter spalten sich in zwei Lager: Die einen haben mit Investitionen ins Winterhalbjahr begonnen. Die anderen scheuen das Risiko, den Geldbeutel aufzutun. Und noch zu häufig dominiert der Reflex, im Winter das Hotel zu schliessen und sich in aller Ruhe für den traditionellen Saisonstart an Ostern zu rüsten.

Was also tun? Ausbau und Neuschaffung von Outdoor-Pfaden an landschaftlich markanten Stellen sind ein Ansatz. Verschiedene Campingplätze wollen geöffnet bleiben, um als Ausgangspunkt für Winterwanderungen zu dienen. Ins Auge sticht ein Experiment rund um die Brissago-Inseln: Der Besitzer, also der Kanton Tessin, macht die Inseln noch für die drei nächsten Wochenenden zugänglich – mit regulären Kursschiffen, die auf dem winterlichen Lago Maggiore sonst fast nie zu erblicken sind.

Auf der richtigen Spur ist auch die Eisbahn auf Locarnos Piazza Grande, neuerdings «Winterland Locarno» genannt. Sie bleibt über einen Monat geöffnet und wartet mit Konzerten und Shows im Grosszelt sowie mit vielen Essensständen auf. In ihrer aufgefrischten Form kam die Eisbahn letzten Winter bei den Deutschschweizern bestens an.

Die Fraktion der fortschrittlichen Tessiner Tourismusanbieter wächst. Sie hat punkto Wintertourismus ein neues Wort geprägt: «destagionalizzazione», auf Deutsch «Entsaisonalisierung». Das heisst, die innovativen Anbieter wollen die althergebrachte Trennung von hochaktiver Sommer- und fast stillstehender Wintersaison abschaffen.

Aber dafür müssen die Anbieter ein überzeugendes Event-Angebot auf die Beine stellen. Am besten starten sie mit dem Ausbau des Weihnachtstourismus. Haben sie erst einmal den Schwung gefunden, entwickeln sie auch gute Event-Ideen für die übrigen Wintermonate. So kann «Winterland Locarno» Impulse für ein veritables «Winterland Ticino» liefern.

Auch da ist die Stadt Lugano auf guten Wegen. Das urbane Angebot mit dem grossen Kulturzentrum namens LAC für Konzerte, Kunstausstellungen, Theater und Business-Events zieht Einheimische wie Touristen aus allen Himmelsrichtungen an. Und zwar das ganze Jahr hindurch, liegt das LAC doch unmittelbar an der Bahnlinie Zürich–Mailand.

Die Deutschschweizer sehen das Tessin als Ferienkanton, den sie sentimental verklären. Eines sollten sie nicht vergessen: Der Tourismus trägt zum kantonalen Bruttosozialprodukt ungefähr noch 12 Prozent bei. Damit bleibt er wichtig, aber als die grosse wirtschaftliche Stütze für die Sonnenstube erweist sich die vielfältige Exportindustrie, angesiedelt im Grossraum Lugano und Mendrisio.

Daher muss vor allem Lugano den Geschäfts- und Konferenztourismus wieder ankurbeln. Der machte vor der Pandemie fast einen Viertel aller Übernachtungen aus und erholt sich langsam wieder. Weil dieser Tourismus das ganze Jahr über stattfindet, trägt er viel zu einer besseren Auslastung der Hotelzimmer und Eventsäle im Winter bei.

 

Zum Trost den Klassiker

Klar ist: Eine «Entsaisonalisierung» kann nur gelingen, wenn genügend Hotelbetreiber ihr Haus auch winters offenhalten. Die Touristiker verstärken allmählich ihre herbstlichen und winterlichen Marketingmassnahmen in der Deutschschweiz und im Ausland. Also werden irgendwann deutlich mehr Wintertouristen in den Südkanton strömen. Sollten diese dann auf geschlossene Hotels stossen, würde der Ruf der Destination Tessin ramponiert.

Die Tagesausflüge via Gotthard-Basistunnel bleiben auch in den nächsten Jahren beliebt. Zwar generiert der Tagestourismus nicht so viel Mehrwert, aber er wird grössere Marktanteile erobern. Also müssen sich die Tessiner Anbieter besser darauf einstellen. Allerdings versetzen die SBB dem Tagestourismus in den Süden bald wieder einen Dämpfer: Sie schliessen wegen neuer Sanierungsarbeiten vom 13. bis 24. Januar den Gotthard-Basistunnel für den Personenverkehr. Fast alle Reisezüge müssen auf der alten Bergstrecke verkehren, die Fahrt dauert wieder eine Stunde länger.

Zum Trost gibt es immer noch den Touristenklassiker: Man kann in aller Ruhe auf Asconas Promenade flanieren und die Seesicht geniessen. Diese ist grandios – im Winter ganz besonders.