Nehmen wir die Story um die Frauengeschichten von SP-Bundesrat Alain Berset. Die Story der letzten Woche, über Sex, Liebesfahrten, Erpressung und Amtswillkür, wäre für jede Boulevardzeitung ein gefundenes Fressen.
Und was titelte der Blick, als die Story losging, auf Seite eins? Es ging um die Finanzlage einer Gewerkschaft. Berset war auf der Titelseite nur eine Randnotiz.
Zu Erklärung gehen wir 35 Jahre zurück. Im Jahr 1986 stand der Blick auf seinem historischen Höhepunkt, die Auflage erreichte 380 000 Exemplare. Davon wurden gegen 200 000 Stück am Kiosk und über Zeitungsboxen verkauft.
Wer jeden Tag die Käufer neu überzeugen muss, der braucht Storys und Schlagzeilen, die sitzen. Man stelle sich einmal vor, was der damalige Blick-Chefredaktor Peter Uebersax aus den Frauengeschichten von Bundesrat Berset gemacht hätte. Er hätte diesen tagelang durch den Fleischwolf gedreht. Und der Kioskverkauf hätte es ihm mit Rekordzahlen gedankt.
Inzwischen spielt das keine Rolle mehr. Beim Blick ist es inzwischen egal, was als Schlagzeile auf Seite eins steht. Auf den Verkauf des Blatts hat der Journalismus keinen Einfluss mehr. Die täglichen Schwankungen liegen bei zufälligen ein paar hundert Stück.
Der Blick verkauft heute im Schnitt noch gut 11 000 Exemplare am Tag, primär am Kiosk und an Tankstellenshops. Am Samstag sind es etwas mehr. Selbst das ist noch erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es das Blatt im Internet gratis gibt.
Bei den klassischen Tageszeitungen, weil online kostenpflichtig, ist der Kioskverkauf etwas weniger stark eingebrochen. Zu seinen besten Zeiten verkaufte der Tages-Anzeiger um die 15 000 Exemplare via Kiosk und Boxen. Bei der NZZ waren es um die 8000 Stück. Heute setzen beide Verlage noch um die dreitausend Zeitungen im Einzelverkauf ab.
Bis in die späten neunziger Jahre war der Kioskverkauf der einzige Indikator, der einer Redaktion signalisierte, ob sie ihre Leser erreichte oder an ihnen vorbeischrieb. Jeweils gegen Abend schickte die damalige Kiosk AG ein Fax an die Redaktionen, das den Kioskverkauf vom Vortag grob schätzte. Es war damals unser einziger Hinweis auf die Vorlieben und Interessen des Publikums.
Beim Blick stürzten sie sich jeweils auf das Fax. Bei den klassischen Tageszeitungen nahm jeweils die Chefredaktion den Kioskverkauf ernst, beim Fussvolk der Journalisten hingegen galt die Analyse der Verkaufszahlen meist als übler Populismus.
Heute hat das gewaltig geändert. Heute müssen Redaktionen nicht mehr lange warten, bis sie die Reaktionen auf ihre Storys kennen. Sie wissen es nach kürzester Zeit, und sie wissen es millimetergenau. Die Klickzahlen nach einem Artikel sind die schnellste und unbestechlichste Kennzahl für publizistische Resonanz, die es jemals in den Medien gab, viel präziser noch als die Einschaltquoten am TV.
Als Folge davon sind die Zeitungsjournalisten zu derartigen Populisten geworden, wie wir uns das zu unseren alten Kioskzeiten nie hätten vorstellen können. Im Minutentakt wird die Resonanz der Storys erfasst, im Newsroom für alle sichtbar auf dem Display. Was gutgeklickt läuft, bekommt auf den Websites weit oben einen prominenten Sendeplatz, was schlechtgeklickt läuft, verschwindet weit unten in den Dunkelkammern der Scroll-Architektur.
Nun möchten Journalisten von ihrer Selbstwahrnehmung her aber nicht opportunistische Populisten sein. Sie möchten distanzierte Aufklärer sein.
Journalisten haben sich darum ein Refugium bewahrt. Das Refugium sind die gedruckten Blätter. Auf Papier machen sie oft noch eine Publizistik, die sich um Kundenreaktionen foutiert. Im Gegensatz zur digitalen Welt, in der sie den Klicks fiebrig hinterherrennen, können sie im Print noch etwas den kühlen Feingeist markieren.
Am Fall von Alain Bersets Frauengeschichten kann man das gut zeigen. Im Netz liefen die Storys natürlich hervorragend. Gedruckt schaffte es Berset dennoch nie als Aufmacher auf die Titelseite, nicht einmal im Blick.
In den gedruckten Blättern haben sich die Redaktionen noch eine Spielwiese bewahrt, auf der die Einschaltquote beim Publikum weniger zählt. Das ist umso risikoloser, als die Papierzeitungen, im Vergleich zum digitalen Angebot, ohnehin nur noch Zweitware sind.
Im Internet hingegen gibt es kein Pardon. Der Kiosk von heute ist der Klick.