Wäre bei Melanie Hasler alles konventionell gelaufen, hätte sie wohl nie in einem Bob Platz genommen. Ihre Mutter stammt aus der Dominikanischen Republik. Dort wird Eis vor allem zum Kühlen von Drinks verwendet. Doch bei Hasler wurde der sportliche Normalfall vor rund sechs Jahren ausser Kraft gesetzt. Eigentlich träumte sie von einer Karriere als Volleyballerin. Schon mit fünfzehn Jahren spielte sie für den VBC Steinhausen in der Nationalliga B. Ihr Fokus galt aber dem Beachvolleyball. Aus diesem Grund trainierte sie im Sommer 2017 am nationalen Jugendsport-Leistungszentrum in Tenero TI – und schielte auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Doch das Schicksal hatte einen anderen Plan – für die Sommerspiele, die wegen der Pandemie erst ein Jahr später stattfanden; und für Hasler erst recht.

Damals in Tenero trat jemand auf die schlagkräftige Ballspielerin zu, der wissen wollte, ob sie nicht für den Bobsport zu begeistern wäre. Hasler glaubte, sich verhört zu haben. Bob? Ihr einziger Berührungspunkt mit dieser Sportart war der Hollywoodstreifen «Cool Runnings», in dem sich ein jamaikanisches Team mit Todesverachtung, Pioniergeist und wechselndem Erfolg die Eiskanäle hinunterstürzte.

Beeindruckende Sprungkraft

Der «Scout» liess nicht locker. Und er erwies sich als Mann, der genau wusste, was es zur perfekten Talfahrt auf Eis braucht: Christoph Langen, deutsche Boblegende mit zwei Olympiasiegen und acht WM-Goldmedaillen im Palmarès. Der Kölner stand damals als Nachwuchstrainer in den Diensten des Schweizer Verbands – und war ständig auf der Suche nach neuen Talenten. Bei Hasler fielen ihm die starken Athletikwerte und die beeindruckende Sprungkraft auf. Und umgekehrt war die Volleyballerin fasziniert vom Gedanken, künftig als Wintersportlerin für Furore zu sorgen.

Hasler trat auf das Angebot Langens ein, in St. Moritz eine Schnupperfahrt als Bremserin zu absolvieren. Die rund 75 Sekunden hinunter nach Celerina sollten zu einem Schlüsselerlebnis für Hasler werden: «Ich bin ein Adrenalinjunkie und wollte sofort wieder einsteigen!» Bob sei wie Autobahnfahren mit Steilwandkurven, beschrieb sie später in einem Interview ihre ersten Eindrücke.

Der Volleyballsport liess sie aber noch nicht los. Zunächst versuchte Hasler, die beiden Sparten zu kombinieren. Doch auf diesem Niveau war dies nicht möglich. Mehr und mehr verschoben sich ihre Prioritäten in den Eiskanal. Ihr gefielen die verschiedenen Qualitäten, die es im Bob braucht: Talent, Schnelligkeit, Stärke und Mut. Nach einer Saison entschied sie sich definitiv für den Bobsport.

Und sie wollte mehr als anschieben und bremsen. So wechselte sie an die Steuerseile. Dabei kam ihr die Einführung des Monobobs entgegen. Auf diesen «Einer-Schlitten» fallen die ersten Versuche leichter. «Das war eine wichtige Lernphase», sagt Hasler heute. Der Lerneffekt war umso grösser, als die Monobobs beim Steuern durchaus ihre Tücken aufweisen. Je leichter das Gefährt im Eiskanal, desto schneller bricht es bei unpräzisen Manövern aus. Man müsse wesentlich feinfühliger fahren, sagt Hasler.

Leistungsschub in diesem Winter

Dies gelingt ihr praktisch auf Anhieb bemerkenswert gut – vielleicht auch, weil sie als begabte Klavierspielerin und Hip-Hop-Tänzerin die Zwischentöne präzis trifft. So fährt sie an den Winterspielen in Peking 2021 als Siebte im «Einer» zu ihrem ersten olympischen Diplom. Mit dem Zweier erreicht sie – zusammen mit Anschieberin Nadja Pasternack – den sechsten Platz. Es war ein erster Vorgeschmack, auf was sich die Schweizer Bobfans künftig freuen können. Noch besser lief es Hasler in Peking aber abseits der Bahn. Sie lernte ihren Sportkollegen Michael Vogt lieben.

Fachmann Erich Schärer glaubt an die junge Sportlerin: «Melanie Hasler besitzt alle Qualitäten, die es braucht, um sich an der Weltspitze zu etablieren», sagt er nüchtern. Aus diesen Worten klingt auch der Respekt vor dem Leistungsschub in diesem Winter. An den Europameisterschaften in Altenberg gewann Hasler (mit Pasternack) im Januar als Zweite ihre erste Medaille an internationalen Meisterschaften. Nur das deutsche Duo Nolte/Neele war noch schneller.

So darf man gespannt sein, wie sich die Karriere von Melanie Hasler weiterentwickelt. Eine Prognose sei aber gewagt: Geht es auch künftig in diesem Tempo abwärts, landet die Aargauerin früher oder später auf dem Podest ganz oben.

Erich Schärer, 76, fuhr an Weltmeisterschaften neunzehn Mal aufs Podest – acht Mal zum Titel. Im «Silberpfeil» holte er 1980 in Lake Placid olympisches Gold. Nach Jahren des Rückschritts im Schweizer Bobsport sieht Schärer Silberstreifen am Horizont – auch dank Melanie Hasler. Er sagt: «Sie hat sich mit dem Monobob sukzessive an die internationale Spitze herangearbeitet. Fahrerisch zeigt sie grosses Talent – und athletisch besitzt sie meisterliches Potenzial. Findet sie die bestmögliche Anschieberin, kann sie an internationalen Titelkämpfen Gold gewinnen.»