Während ich von meinen beiden Heimatländern behaupten kann, sie würden gut für ihre Bevölkerung sorgen, gibt es Unterschiede, was die Staatsführung betrifft. Im Zuge der momentanen Flüchtlingskrise wird deutlich, dass die Schweiz ein Problem hat, das für Singapur längst gelöst ist. Zum einen, weil im südostasiatischen Stadtstaat mindestens vier ethnische Gruppen permanent auf engstem Raum ein friedliches Miteinander fristen und somit die nationale Identität einer angesehenen Wirtschaftsmetropole bilden. Zum andern, weil Singapur punkto Einwanderung eine unnachgiebige Haltung vertritt: keine Aufnahme von Flüchtlingen in unserem Land.

Ist das asozial? Ist Singapur nur so erfolgreich, weil es von egoistischen, kaltblütigen und xenophoben Machthabern regiert wird? Im Gegenzug stelle ich folgende Fragen: Fehlt es der Schweiz an Identitätsbewusstsein? Leiden wir deshalb an einer verworrenen Asylpolitik? Wo führt das hin?

Kaum war die Welt von den Strapazen des Zweiten Weltkrieges erlöst, wurde sie von einer neuerlichen Flüchtlingswelle überrollt. Nach Ende des Vietnamkrieges, namentlich zwischen 1975 und 1995, flüchteten über zwei Millionen vietnamesische Zivilisten aus ihrem Heimatland, ein Grossteil in Booten über das Südchinesische Meer. Während die meisten Küstenstaaten bereit waren, eine begrenzte Zahl an Boat-People aufzunehmen, und das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) den Flüchtlingsstrom längst zum internationalen Problem ernannt hatte, blieb Singapur stur. Nur Flüchtlinge, deren Asylgesuch in einem Drittstaat bewilligt worden war, sollten vorübergehend aufgenommen werden – für maximal neunzig Tage. Die Zahl der Asylanten war jederzeit auf tausend beschränkt. Wer Singapur kennt, weiss: Der Tausendunderste hat einfach Pech gehabt und wird zur Umkehr gezwungen.

Dieses strikte Regime ist mit einem einzelnen Namen verbunden: Lee Kuan Yew (1923–2015). Der Anwalt amtete von 1959 bis 1990 als Premierminister Singapurs. Sein Geist formte die Geschichte des noch jungen Stadtstaates insofern, als Lee 1965 die Unabhängigkeitserklärung verantwortete. Auch gelang es ihm, aus einem von Drogenkonflikten, Piraterie, Prostitution und Menschenhandel geprägten Haufen wild durcheinander gewürfelter Menschenrassen eine solide Einheit zu bilden. Geprägt von seiner Herkunft aus China, wo harte Arbeit als lobenswert und Müssiggang als tadelnswert beurteilt wird, lebte Lee Kuan Yew vor, was er von seinem Volk verlangte. Sein Sinn für Korrektheit und Gerechtigkeit verlieh ihm die Rolle eines authentischen Volksführers und einer Vaterfigur. Bis heute gilt in Singapur: «Bestraft wird, wer Strafe verdient.» Und andererseits: «Belohnt wird, wer Belohnung verdient.»

Aufgrund seiner renitenten Haltung anlässlich der erwähnten Flüchtlingskrise sah sich der Spitzenpolitiker mit Vorwürfen von allen Seiten konfrontiert. Gemäss Laotses Zitat, wonach man nicht nur für das verantwortlich ist, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut, bot Lee seinen Gegnern unerschrocken Paroli. In einem Interview mit der New York Times gab er 1978 folgendes Statement ab: «Du musst Schwielen auf deinem Herzen bekommen, sonst verblutest du.»

 

Platz hat’s ja noch

Derweil lassen unsere Bundespolitiker kaum eine Möglichkeit aus, ihr grosses Herz zur Schau zu stellen. Während Flüchtlinge von allen Seiten näherrücken, häufen sich die ungelösten Asylkonflikte. Dabei will jeder gut dastehen, keiner die Verantwortung übernehmen. Was in Bern aus dem Ruder läuft, wird den Kantonen und Gemeinden zugeschoben.

Platz hat’s ja noch. Im Gegensatz zu Singapur, das auf Rang drei der dichtestbesiedelten Länder thront, stehen jedem einzelnen sportlichen und unsportlichen Bewohner der Schweiz satte 46,5 Quadratmeter Turnfläche zur Verfügung.

Der tausendunderste Flüchtling hat einfach Pech gehabt und wird zur Umkehr gezwungen.

Könnte man für die Asylanten ein paar Zelte unter freiem Himmel aufschlagen, wären unsere Ressourcen in der Tat unerschöpflich. Doch liesse in dem Fall eine Klage des Europäischen Gerichtshofes nicht lange auf sich warten. Das wollen wir nicht. Dafür sind wir Schweizer zu anständig.

Aber sind Platzmangel und Wohnungsnot wirklich die einzigen Herausforderungen im Umgang mit Asylsuchenden? Diffuser gestaltet sich der soziale Aspekt. Mit wie viel Identitätsverlust ist die kulturelle Integration verbunden? Nehmen wir das Beispiel der Sprache: Im Zuge von Integrationsmassnahmen besetzen fremdsprachige Flüchtlingskinder die Schulbänke im Regelunterricht. Derweil sind die Ergebnisse einer Pisa-Studie von 2018 alarmierend. Demnach zeigen Schweizer Schüler in den getesteten Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften einen markanten Leistungsabfall gegenüber den Vorjahren. Dass die Schweiz in der Lesekompetenz sogar unter dem OECD-Durchschnitt liegt, begründen die Studienverantwortlichen mit dem hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund, der sich zwischen 2009 und 2018 bei den Fünfzehnjährigen um 10 Prozent erhöht hat und einer der stärksten Zunahmen im OECD-Raum entspricht.

Richten wir das Augenmerk auf die ethisch-moralische Komponente: Wie verändert sich unsere Gesellschaft, wenn Leistung nichts mehr zählt und stattdessen die hohle Hand belohnt wird? Blitzgescheite Studenten mit Schweizer Pass müssen neben ihrem Uni-Studium zwei oder drei Teilzeitjobs annehmen, um sich finanziell über Wasser zu halten, weil der Staat sie nicht unterstützt. Alleinerziehende Schweizer Elternteile kommen mit Arbeit und Kinderbetreuung an die Grenzen ihrer Kräfte, weil unser Land nicht genügend Ressourcen für «moderne» Familienmodelle generieren kann. Rentnerinnen und Rentner, die ein Leben lang mit ihrem Fleiss zum Wohlstand unseres Landes beigetragen haben, fristen ihren Lebensabend am oder sogar unterm Existenzminimum. Derweil werden Flüchtlingsfamilien grosszügig unterhalten, ihre Kinder gratis betreut und ihre Ausbildung bezahlt, dies unter anderem durch die Steuern alleinerziehender Elternteile und von Senioren.

Ist das fair? Zählt die Freiheit eines Flüchtlings mehr als die Freiheit der eigenen Bürger? Sind wir gerade dabei, eine Mentalität anzunehmen, deretwegen sich unsere stets auf Tüchtigkeit bedachten Grosseltern im Grab umdrehen würden? Gibt es vielleicht etwas Schutzbedürftigeres als die 46,5 Quadratmeter Turnfläche pro Schweizer? Betreiben wir unter der Bundeskuppel etwa eine Pro-forma-Politik? Bloss um den Schein zu wahren, dass alle Schweizer ziemlich nett und zufrieden wären? Offenbart sich auf der Bühne in Bern ein halbwegs glaubwürdiges Schauspiel unserer eigenen Orientierungslosigkeit?

 

Fachkräfte auf Zeit

2 523 648 Migranten, sogenannte skilled workers, verzeichneten die singapurischen Behörden im Jahr 2022 – das sind 42 Prozent der gesamten Wohnbevölkerung. Aber hiess es nicht eingangs, Singapur würde kein fremdes Volk akzeptieren? Das Land mit der Fläche des Kantons Solothurn hat einen Plan, und dieser kennt nur eine Richtung: vorwärts. Um die Migrationspolitik Singapurs zu verstehen, muss man sich mit Konfuzius auseinandergesetzt haben. Getreu den Lehren des chinesischen Philosophen, wonach eine Gesellschaft nur durch Bildung verändert und verbessert werden kann, werden leistungsstarke Studenten aus dem Inland mit staatlichen Stipendien gefördert. Singapur hat sich zum Ziel gesetzt, die Weltranglisten zu dominieren, in Wissenschaft, Architektur, Ökonomie und neuerdings auch in der Kunst. Wo die eigenen Ressourcen nicht genügen, wird mit ausländischen Fachkräften kompensiert.

Ein Blick hinter die Kulissen offenbart das taktische Vorgehen der Regierung, ist doch die Mehrheit der Einwanderer zum Zeitpunkt ihres Aufenthaltes in Singapur zwischen 40 und 49 Jahre alt – also im besten Alter, um Höchstleistungen zu erbringen. Stets gefragt sind international renommierte Universitätsprofessoren, Forschungspioniere sowie Spezialistenteams an Spitälern. Eine befristete Aufenthaltsbewilligung erhalten nur diejenigen, auf die Arbeit wartet. Nach Projektende werden die Fachkräfte wieder entlassen: vom Arbeitsplatz und aus Singapur. Wer gegen das Gesetz verstösst, muss mit einer Strafe rechnen. Die Regeln im Tigerstaat sind klar und konsequent. Die Singapurer sind stolz auf ihr Land, stolz auf ihre Regeln und Strafen. Und wir?

 

Sozial bis zur Identitätskrise

«Majulah Singapura!» heisst so viel wie «Vorwärts, Singapur!». Während der Tag an jeder öffentlichen Schule Singapurs mit dem Singen der Nationalhymne unter gehisster Nationalflagge beginnt, kennt hierzulande kaum ein Jugendlicher die Schweizer Hymne. In der Schweiz gilt: ja nicht zu patriotisch sein, ja nicht zu viel Nationalstolz zeigen. Eine Umfrage unter den heute Zwanzig- bis Dreissigjährigen liefert zermürbende Ergebnisse. Eine Kostprobe an der Zürcher Bahnhofstrasse an einem sonnigen Spätsommernachmittag offenbart, dass nicht einmal zwanzig von hundert Befragten die Sage von Wilhelm Tell kennen. Während im Kanton Zürich die Lektüre von Schillers «Tell» bis 1968 noch obligatorisch war, beinhaltet der Lehrplan 21 keine Literatur von Schweizer Dichtern. Max Frisch und Gottfried Keller verwechseln die heutigen Schulkinder vielleicht mit einem Bundesrat, «Andorra» könnte ein afrikanisches Gericht sein und «Seldwyla» der Name eines ukrainischen Flüchtlingskinds.

Der Schweizer ist bekannt für seine Bescheidenheit und Freundlichkeit. Aber auch für seine Scheinheiligkeit – und genau hier steckt ein Wurm im Apfel. Natürlich ist es schmeichelhaft, die Position des Helfenden einzunehmen. Natürlich ist es rühmlich, wenn einem Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft nachgesagt werden. Aber wie steht es um den Unmut in der Bevölkerung? Opfern wir unsere Freiheit zugunsten der Freiheit der anderen?

 

Rahel Senn, Schweizerin mit singapurischen Wurzeln mütterlicherseits, ist Pianistin, Komponistin und Schriftstellerin.