Stefan Zweig: Die Kunst, ohne Sorgen zu leben. Insel. 79 S., Fr. 21.90

Wer Stefan Zweig liebt, wird dieses Büchlein in sein Herz schliessen: «Die Kunst, ohne Sorgen zu leben». Die neun Texte sind zumeist Zeitschriftenbeiträge aus Zweigs letzten beiden Lebensjahren – ehe er sich im Februar 1942 in seinem brasilianischen Exil das Leben nahm.

Umso erstaunlicher und berührender ist es zu lesen, mit welcher Zärtlichkeit sich Zweig bis zuletzt den Anmutigkeiten und der Fülle des Lebens zuwandte. Schon der Titelbeitrag gibt den Ton vor, eine wunderleicht flanierende kleine Erzählung vom seltsamen Anton, einem «etwa dreissigjährigen, ärmlich gekleideten Mann ohne Hut, ohne Kragen», der sich durch die kleine Stadt, in der Zweig lebte, wie in einem grossen Wohnzimmer bewegte. Er schlief mal hier, mal dort, er arbeitete mal dort, mal hier, immer stundenweise und nur gegen so viel Lohn, wie er für einen Tag gerade benötigte.

Für Zweig ist dieser Anton die Menschwerdung jener Vögel unter dem Himmel im Matthäusevangelium 6, 26: «Sie säen nicht, sie ernten nicht [. . .] und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.» Von diesem «hageren Burschen» lernt Zweig «das grosse Lebensgeheimnis, sich vor dem Morgen nicht zu fürchten und auf Gott zu vertrauen». Er hatte «für seine Person ein neues, durchaus antikapitalistisches System erfunden: Er vertraute auf die Anständigkeit der Menschen.» Und weil er «nicht für Geld diente, sondern aus Menschlichkeit, darum achteten ihn alle».

Wohlgemerkt, dieser Text entstand 1940, Hitlers grosser Krieg war in vollem Gange.

Untergang der vertrauten Welt

Wohlgemerkt, dieser Text entstand 1940, Hitlers grosser Krieg war in vollem Gange, und der Glaube der Menschen an die Wirkmacht der Friedfertigkeit dürfte damals mindestens so sehr erschüttert gewesen sein wie bei uns Zeitgenossen nach Russlands Überfall auf die Ukraine. In seiner Betrachtung «In dieser dunklen Stunde» zeigt sich Zweig jenen gegenüber, «die das grösste Unheil der Geschichte über die Welt gebracht» haben, nur allzu bewusst. Es ist also weder Naivität noch Ignoranz, wenn er im Angesicht des Gemetzels und des Untergehens seiner vertrauten Welt den Burschen Anton und die Wurzeln der Mitmenschlichkeit in Erinnerung ruft.

Im Aufsatz «Hartrott und Hitler» beschreibt er eine Romanfigur aus «Die vier Reiter der Apokalypse» des Spaniers Vicente Blasco Ibáñez von 1914, den deutschen Geschichtsprofessor Julius von Hartrott, der «den deutschen Anspruch auf Weltherrschaft» durch eine Herrenrassentheorie begründet, die den Rassenwahn der Nazis vorwegnimmt. «Mit Schrecken stellen wir fest», so Zweig, «dass im Unterbewusstsein des deutschen Volkes dieser Traum von Weltherrschaft schon immer vorhanden war.»

An der Pforte zur Sinnstiftung

Die wohl schönste Miniatur ist «Eine nachhaltige Lektion», die sich Zweig als 25-Jähriger in Paris bei einem Besuch im Atelier von Auguste Rodin holte. Der junge Schriftsteller war noch auf der Suche nach seiner Lebensform als Künstler und dem, was diese Existenz im Innersten ausmacht. Der ergraute Meister Rodin führte ihn zu einem «meisterhaft in Ton modellierten Frauentorso», will nur eine Winzigkeit korrigieren und ist unversehens die nächste Stunde in Lehm und Spachtel vertieft. «Er hatte», schreibt Zweig, «total meine Gegenwart vergessen.» Rodins schwerer Leib wurde auf einmal federleicht, «eine Wachheit war über sein Wesen gekommen, die zugleich einer Trunkenheit glich».

Da verstand Zweig, «was mir bislang gefehlt hatte: die Inbrunst, die alles vergisst über dem einen Willen zur Vollendung». Die heutige Psychologie nennt diesen Zustand Flow, eine Form der Selbstvergessenheit, der Selbsttranszendenz, die für den Psychotherapeuten Viktor E. Frankl die Pforte zur Sinnstiftung ist.

Entsprechend schmerzlich, aber auch rätselhaft mutet nach dieser Lektüre der Entschluss Stefan Zweigs an, aus dem Leben zu scheiden. Der Herausgeber Volker Michels lässt im Nachwort durchblicken, wie sehr sich Zweig im Exil durch unermüdliche Hilfsbereitschaft für andere Betroffene selbst erschöpfte: «Einem Autor wie ihm, dessen Triebfeder es war, sich für das Gute zu begeistern, waren nun alle vitalen Impulse genommen.» Zweig sagte kurz vor seinem Tod: «Wie kann ich etwas aufbauen, wenn ich zu gleicher Zeit die satanischste Vernichtung am Werke weiss!» Am Ende sind es wohl nicht die Sorgen und die Unglücke, die jemanden in den freiwilligen Tod treiben, sondern der Mangel an empfundenem Sinn.