Vor wem müssen die Pensionskassen und andere Investoren mehr Respekt haben: vor dem gegenwärtigen Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, oder vor seiner wahrscheinlichen Nachfolgerin Christine Lagarde? Beide können bei Bedarf streng dreinblicken, aber die Reaktion der Finanzmärkte war klar und deutlich, als die Meldung kam, die seit 2011 als Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) amtierende Französin Christine Lagarde werde zur Präsidentin der EZB vorgeschlagen: «Jetzt kommen wohl eher lockerere Zeiten auf Anleger und Finanzminister zu, los, kaufen wir Obligationen» – das war ungefähr die Stimmung, die sich bei Marktteilnehmern kurz nach dem Beschluss der EU-Staats- und Regierungschefs verbreitete. Die Kurse der zehnjährigen Staatsanleihen Italiens stiegen stark, das heisst, die Zinsen sanken und erreichten vorübergehend 1,6 Prozent. Mit andern Worten: Die Anleger sind bereit, dem hochverschuldeten italienischen Staat Geld für zehn Jahre zu überlassen und dafür lediglich 1,6 Prozent oder leicht mehr Jahreszins zu verlangen, wie dies die Grafik zeigt.
Es ist kaum vorstellbar, dass in dieser mageren Prämie die Risiken einer solchen Ausleihe an einen wenig effizienten Staatsapparat abgedeckt sind. Man muss es sich wohl auch gar nicht vorstellen können, denn an den Märkten sind tonangebende Investoren offenbar der Ansicht, dass Risiken im Zusammenhang mit Italien von jemand anders übernommen werden: von der EZB in Frankfurt. Zudem sind die italienischen Zinsen bereits seit Anfang Juni gesunken, weil sich abzeichnete, dass die EU-Zentrale entgegen früheren Drohungen doch kein Defizitverfahren gegen das Land einleiten würde. Nachsichtigkeit aus Brüssel und aus Frankfurt – das sind die Rezepte, um die Märkte ruhig zu halten und davon abzulenken, dass es schwierig ist, ewig mit derart hohen Schulden und geringer Produktivität zu wirtschaften, wie dies in Italien oder Frankreich beobachtbar ist. Diese Geldpolitik fügt auch der Schweiz Schaden zu, und sollte sie noch expansiver werden, müsste sich die Nationalbank wohl von der EZB distanzieren und den Franken stärker werden lassen, ähnlich wie 2015 bei der Aufhebung der Kursuntergrenze.
Mit Christine Lagarde käme eine Persönlichkeit an die EZB-Spitze, die es gewohnt ist, gläserne Decken zu durchbrechen. Sie wäre die erste Frau im Präsidium der Euro-Notenbank, nachdem sie bereits als Direktorin des IWF und Nachfolgerin des berühmten Dominique Strauss-Kahn die erste Frau im Amt war und das Gleiche auch vorher schon in der französischen Regierung geschafft hatte. Sie hat fast eine Karriere vorzuweisen, wie man sie von einer französischen Spitzenpersönlichkeit erwartet: aus gutgestellter Familie, der Vater Professor, die Mutter Lehrerin, sportliche Spitzenleistungen in der Jugend als Mitglied der französischen Nationalmannschaft im Synchronschwimmen, Besuch hochstehender Mittel- und Hochschulen – aber mit verpasster Aufnahme in die legendäre Eliteschule ENA. Als Rechtsanwältin trat sie 1981 in Paris in die international tätige Kanzlei Baker McKenzie ein, stieg bis an die Spitze der Geschäftsleitung auf und übernahm 2004 in der weltweiten Führung der Gruppe und damit in der angelsächsischen Welt wichtige Leitungsfunktionen. Sie tritt so weltläufig auf wie globalisierte Manager – aber mit französischen Vorstellungen vom Funktionieren der Weltwirtschaft.
Ihre Karriere in der Politik begann Lagarde Mitte 2005 als beigeordnete Ministerin für Aussenhandel, dann kurz als Ministerin für Landwirtschaft und Fischerei, um dann von 2007 bis 2011 als Wirtschafts- und Finanzministerin in der Regierung von François Fillon voll im Zentrum der Politik mitzuwirken. Damit politisierte sie eigentlich im bürgerlichen Lager, das aber in Frankreich stark durch Zentralismus und kollektivistische Politik geprägt ist. Das Publikum, das jetzt von ihr erwartet, sie werde als EZB-Chefin die Geldversorgung noch einen Zacken grosszügiger führen als Draghi, sieht in ihr denn auch vor allem die Französin und die Anhängerin eines französisch geprägten Verständnisses von Wirtschaft und Handel, das dem Staat viel Wissen und Können zutraut und das auch hartnäckig das Klischee verficht: Exporte sind gut, Importe sind schlecht.
In dieses Bild passt, wie Lagarde beispielsweise im Oktober 2009 als Wirtschafts- und Finanzministerin umfangreiche Staatsaktionen durchzog. Als Frankreichs Regierung für den Haushaltsvorschlag 2010 ein Defizit von 8,5 Prozent und eine Verschuldungsquote von 84 Prozent des Bruttoinlandprodukts, also Werte weit über den Maastricht-Kriterien, vorsah, rechtfertigte Lagarde dies mit dem Argument, die Konjunkturstützung habe Vorrang. Damit verteidigte sie die Linie, die Frankreich und Deutschland schon 2005 vorgezeichnet hatten, als beide Länder gemeinsam die Maastricht-Vorgaben verletzten und deren Regierungen dies als lässliche Sünde im Interesse eines wichtigeren Ziels abtaten. Später in ihrer IWF-Zeit schlug dann bei Lagarde immer wieder der Merkantilismus durch, mit der Vorstellung «Export gut, Import schlecht», etwa wenn sie die deutschen aussenwirtschaftlichen Erfolge kritisierte: Deutschlands Exportüberschuss bei Gütern und Dienstleistungen sei doppelt so hoch, wie er im Welthandel angemessen sei, Deutschland solle weniger sparen und mehr investieren, sagte sie im Frühling 2017.
Was ist also von Christine Lagarde als EZB-Chefin zu erwarten? «Steer, Don’t Drift», «Steuere, lass dich nicht treiben», war der Titel ihrer Rede im Oktober 2018 zur Frage, wie die Weltwirtschaft auf Kurs zu halten sei. Wird sie dirigistisch herrschen? «Die Nomination von Christine Lagarde zur EZB-Präsidentin ist eine sehr gute Wahl», sagt Stefan Gerlach, Chefökonom der EFG Bank, früherer Vizegouverneur der irischen Zentralbank sowie Professor für monetäre Ökonomie, und fügt an: «Viele glauben fälschlicherweise, dass der EZB-Präsident oder die -Präsidentin die Geldpolitik festlegt oder massgeblich bestimmt. Vielen sehen diesen Posten ähnlich wie den amerikanischen Notenbankchef, der historisch über eine starke Position verfügt.» Die Hauptaufgabe des EZB-Präsidenten sei es aber, die Sitzungen des EZB-Rates zu leiten. Und dessen Mitglieder bestimmten die Geldpolitik. Für Draghi sei es sehr einfach gewesen, eine expansive Geldpolitik zu verfolgen, weil er im EZB-Rat eine überwältigende Zustimmung dafür erhalten habe. Er habe einfach das vorgeschlagen, was grossen Anklang gefunden habe.
Der 25-köpfige EZB-Rat besteht aus den sechs Mitgliedern des Direktoriums und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der 19 Mitgliedstaaten des Euro-Raums. Er ist das oberste Entscheidungsgremium der Notenbank. Wird denn Lagarde als Präsidentin nicht grossen Einfluss haben, indem sie die Themen setzen und die Diskussion lenken kann? Gewiss, der Präsident bestimme die Agenda, formuliere Vorschläge und sei dadurch wichtiger als die übrigen Mitglieder, aber diese Macht sei beschränkt, meint Gerlach. Primäre Aufgabe des Präsidenten sei es, das Gremium zu breitabgestützten Entscheiden zu führen, die inhaltliche Richtung dagegen sei von der Zusammensetzung des Rates abhängig. Es sei ja jeweils in der Presse zu lesen gewesen, wenn etwa der deutsche Bundesbankchef Jens Weidmann mit einigen Kollegen eine Minderheitsmeinung vertreten habe. Nachdem dieses Jahr aber insgesamt etwa ein Dutzend neue Ratsmitglieder ernannt worden seien, habe er den Eindruck, dass die neuen Mitglieder, die den früheren Zusammenbruch nicht erlebt hätten, wahrscheinlich eine etwas weniger expansive Geldpolitik befürworten würden. Gerlachs Ansicht nach waren die Marktreaktionen auf Lagardes Ernennung übertrieben.
Gunther Schnabl, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig, sieht die Besetzung des EZB-Präsidiums mit erheblich weiter reichenden Wirkungen verbunden. Seiner Ansicht nach gewinnt mit Lagarde das traditionelle französische Zentralbankmodell stärker an Einfluss, das Modell, bei dem die Notenbank eng mit dem Finanzministerium kooperiere und Staatsausgaben finanziere. Seit der Präsidentschaft des Franzosen Jean-Claude Trichet bewege sich die EZB in Richtung eines zentralbankfinanzierten keynesianischen Staatsmodells; mit Lagarde werde ein weiterer Schritt getan, um über die Personalpolitik die geldpolitische Ausrichtung der Institution EZB langfristig zu beeinflussen. Draghi sei eher ein Mann der Finanzmärkte gewesen, der sich mit seiner Geldpolitik zunächst auf die Stabilisierung der Banken konzentriert habe. Mit der Zeit habe sich der Akzent hin zu einer Stützung der Politik verschoben, vor allem über umfangreiche Staatsanleihekäufe durch die Zentralbank.
Damit sei der Übergang zu Lagarde eigentlich schon vorgespurt worden. Besonders die hochverschuldeten südlichen Euro-Länder seien auf niedrige Zinsen angewiesen, die entsprechende Neigung wachse aber auch im Norden allmählich. «Das Feigenblatt für die expansive Geldpolitik ist die geringe Inflation», meint Schnabl. Bei den im Konsumentenindex enthaltenen Gütern und Dienstleistungen sei die Teuerung ziemlich gering, während sich scharfe Preissteigerungen vor allem bei Aktien, Immobilien oder Luxusgütern zeigten. Aus der geringen Konsumentenpreisinflation werde das Argument abgeleitet, die enorme Ausweitung der Zentralbankbilanzen durch den Ankauf von Vermögenswerten und die Senkung der Zinsen auf null hätten keine Kosten zur Folge. Gibt es nirgends Widerstand dagegen? Schnabl verweist darauf, dass gerade dieser Tage in Deutschland erstmals seit langem Kritik gegen die expansive Geldpolitik laut werde, etwa von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und im bürgerlichen Teil der Unionsparteien. «Ich glaube, in der CDU rumort es», sagt Schnabl. Seiner Ansicht nach könnte das ein Signal sein, dass der Widerstand gegen die ultralockere Geldpolitik stärker wird.