Es war leicht bewölkt an jenem 29. Juli 2010, an dem der Untersuchungshäftling Jörg Kachelmann, in weissem Leibchen und frisch rasiert, nach über vier Monaten aus seiner Haft entlassen wurde. Es sei kein «dringender» Tatverdacht mehr vorhanden, hatte das Oberlandesgericht Karlsruhe an jenem Donnerstag frühmorgens verkündet und den Haftbefehl aufheben lassen. Zudem bestünden die Fallkonstellation «Aussage gegen Aussage» und erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des angeblichen Opfers. Es war eine Bombe mittelgrosser Sprengkraft, welche die Juristen in Karlsruhe zündeten, und eine schallende Ohrfeige für die Mannheimer Kollegen. Nach 132 Tagen in Haft darf Kachelmann nun reisen, wohin er will, ohne Kaution, ohne Auflagen. Es stellt sich die Frage, ob nicht vielmehr das Opfer Täter ist – und der Täter das Opfer einer Intrige.

Der Beschluss, welcher zur Freilassung führte, wird seither wie ein Kronjuwel unter Verschluss gehalten. «Da es sich um ein laufendes Verfahren handelt», wie man der Weltwoche am Oberlandesgericht (OLG) auf Anfrage mitteilt. Möglicherweise versucht man auch, die bereits düpierten Mannheimer Kollegen nicht noch weiter vorzuführen. Denn der Beschluss, welcher der Weltwoche exklusiv vorliegt, ist von hoher Brisanz. Er zeigt auf vierzehn Seiten in aller Deutlichkeit, auf welch dünnem Eis die Anklage steht. Er lässt nicht nur auf Parteilichkeit der Behörden schliessen, sondern auch auf schlampige Ermittlungsarbeit. Wichtigste Erkenntnis: Bereits seit dem 20. April war den Mannheimer Untersuchungsbehörden bekannt, dass das vermeintliche Opfer konsequent über längere Zeit hinweg gelogen hatte. Dennoch wurde Jörg Kachelmann weiterhin in Untersuchungshaft behalten. «Ein Justizskandal», rief Reinhard Birkenstock, Kachelmanns Strafverteidiger, aus. Zu Recht.

 

Planmässig gezimmertes Lügengebilde

Schwer erschüttert durch den Bericht wird die Glaubwürdigkeit jener Radiojournalistin, die Kachelmann wegen Vergewaltigung anzeigte und den Fall ins Rollen brachte. Die 37-Jährige, die in der Presse Simone, Sabine, Sandra oder Silvia hiess, gab an, am Tag der Tat zwei Flugtickets zugeschickt bekommen zu haben, die auf Kachelmann und eine andere Frau ausgestellt waren. Sie habe keine Ahnung gehabt, wer ihr den Brief mit den Tickets geschickt haben könnte. Aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts geht nun hervor, dass das angebliche Kachelmann-Opfer bei der Darstellung dieser Sachverhalte dreist gelogen hat: Der Journalistin konnte nachgewiesen werden, dass sie schon seit einem Jahr von ihrer Nebenbuhlerin wusste. Den anonymen Brief, der die Tat ausgelöst haben soll, hatte sie sich gar selbst geschrieben.

Der Bericht zeichnet das Bild eines planmässig aufgebauten Lügengebildes: Dass sie ihre falschen Aussagen in vier Vernehmungen aufrechterhalten habe (selbst gegenüber ihrem Therapeuten), «erschüttert zweifellos die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin». Weiter heisst es in dem Beschluss: «Die Nebenklägerin hat ein nicht unbeachtliches Fantasie- und Beharrungsvermögen unter Beweis gestellt. Dadurch, dass sie auch unter Befragungsdruck ihre Falschangaben durchgehalten hat, hat sie ihre Fähigkeit zur Konstruktion und Aufrechterhaltung einer Falschaussage unter Beweis gestellt.» Die Landesrichter zweifeln fundamental an den Aussagen der Radiojournalistin: «Dieses Aussageverhalten der Nebenklägerin erschwert auch und insbesondere die Ermittlung des Wahrheitsgehalts ihrer Angaben zum Vergewaltigungsvorwurf, dem Kerngeschehen.» Die Zeugenaussage zur angeblichen Vergewaltigung sei «wenig detailreich» und genüge nicht den «erhöhten Anforderungen» an die Glaubhaftigkeit eines derart schwerwiegenden Vorwurfs.

Der Zirkelschluss der Staatsanwälte

Wie aber kam, wenn denn die Zeugin doch so offenkundig die Unwahrheit gesagt hatte, die Mannheimer Staatsanwaltschaft dazu, den Wettermoderator hinter Gittern zu halten? Wie konnte es passieren, dass die Mannheimer Ermittler Kachelmann noch immer in Gewahrsam hielten, obschon ihnen bereits seit dem 20. April bekannt war, dass ihre Kronzeugin in wesentlichen Punkten Falschaussagen verbreitet hatte? Bekannt war es ihnen deshalb, weil die Zeugin an diesem Datum erstmals von ihr gemachte Aussagen in Anwesenheit der Staatsanwälte korrigieren musste.

Die Erklärung des Oberlandesgerichts liest sich für den juristischen Laien geradezu gespenstisch: Die Mannheimer Staatsanwälte betrachteten die unwahren Aussagen gewissermassen als Beweis für die erfolgte Vergewaltigung. Für die Staatsanwälte waren die Falschdarstellungen die Folge einer «posttraumatischen Belastungsstörung» des Opfers, das eben durch die Vergewaltigung derart erschüttert worden sei, dass es nicht mehr alle Sachverhalte richtig darzustellen wusste. Für die Gutachter des Oberlandesgerichts erlagen die Mannheimer Ermittler dadurch einem klassischen Zirkelschluss. Aus den Lügen der Anklägerin leiteten sie einen Beleg für deren Glaubwürdigkeit ab. Dieser abenteuerlichen Logik folgt das OLG nicht. Für das Gericht steht fest, dass die Zeugin einfach brandschwarz gelogen hat. Anhand dieser Verdachtslage wäre die Mannheimer Staatsanwaltschaft eigentlich verpflichtet gewesen, ein Ermittlungsverfahren gegen das angebliche Opfer wegen Falschaussage und Vortäuschens einer Straftat einzuleiten. Was jedoch bis heute nicht geschehen ist.

«Hass, Vergeltungswünsche»

Wie aber erklärt sich das Oberlandesgericht die Falschaussagen der Zeugin? Sie bestätigen unterschwellig eine Version, die Alex Baur in der Weltwoche (Nr. 23/10) geliefert hatte: Als die Radiomoderatorin davon erfuhr, dass Kachelmann neben ihr noch andere Frauen hatte und sich der Traum einer gemeinsamen Zukunft zerschlug, sei für sie eine «Lebenslüge» sichtbar geworden, «gepaart mit einer fundamentalen Erschütterung ihres eigenen Selbstwertgefühls». Die «Wut auf den Angeklagten, Hass, Rachegedanken und Vergeltungswünsche» könnten bewirkt haben, dass die Schwerverletzte «Gleiches mit Gleichem» zu vergelten versucht habe. Es gab ein Motiv für die Klägerin, sich an Kachelmann mit fingierten Vorwürfen zu rächen.

Doch nicht nur die fahrlässigen Ermittlungen werfen ein schiefes Licht auf die Mannheimer Ermittler. Die Justiz verschärfte das Ungemach für den zu Unrecht Festgehaltenen noch dadurch, dass sie die Medien seit Monaten mit ihren Untersuchungsergebnissen fütterte. «Im Fall Kachelmann wurde ein regelrechter Aktenhandel betrieben», konstatiert Gerhard Strate, ein bekannter Strafverteidiger aus Hamburg. Die amerikanische Unsitte, dass die ermittelnden Behörden bereits im Vorfeld medial versuchen, die Schuld zu belegen, habe auch in Deutschland Einzug gehalten. Marlis Prinzing, Journalistik-Professorin in Köln, kritisiert das gezielte Einspannen der Medien für die eigenen Zwecke hart: «Es ist ein medialer Volksgerichtshof.»

Speziell die Tageszeitung Bild und das Magazin Focus wurden zu Amtsblättern der Mannheimer Justiz. Keine Woche verging, in der nicht darüber berichtet wurde, wie es den Behörden gelungen war, Kachelmann zu überführen. Die Rede war von Vergewaltigungsspuren, die am Opfer gefunden worden seien, oder von einem Messer, mit dem Kachelmann sein Opfer bedroht haben soll. Man habe DNA-Spuren gefunden.

PR-Offensive der Ankläger

In einem rechtsmedizinischen Gutachten von Bernd Brinkmann stellte sich allerdings heraus, dass gar keine DNA-Spuren an dem Messer gefunden worden waren. Zudem hält es der profilierte Gerichtsmediziner für unmöglich, dass überhaupt irgendein Messer die «Hautbeschädigung» am Hals verursacht habe. Bei den Hämatomen an den Oberschenkeln des angeblichen Opfers sei eine Selbstbeibringung möglich und sogar wahrscheinlich.

Jörg Kachelmanns Anwälten ist mittlerweile der Kragen geplatzt. Sie haben eine Dienstaufsichtsbeschwerde bei der Mannheimer Justiz eingereicht. Diese wiederum versucht nach all den Pleiten und Pannen, ihr Gesicht zu wahren. Wieder mit einer PR-Offensive: Via Focus wurde Anfang August das Tagebuch des vermeintlichen Opfers veröffentlicht. Bereits hat ein aufmerksamer Leser der Unterstützungsplattform «Free Kachelmann» auf Facebook entdeckt, dass eine ganze Passage wörtlich von einer Internetseite abgeschrieben wurde. Zufall? Ein weiterer Umstand, der ab dem 6. September vor dem Landgericht Mannheim untersucht werden wird.