Bern

Karin Keller-Sutter punktet dieser Tage gleich mehrmals im linken Lager. Zuerst gab die Justizministerin zur Freude von SP und Grünen bekannt, sie unterstütze «eine Verschärfung der Massnahmen gegenüber Russland». Dann liess sie die Nachricht streuen, dass sie ein Verbot von Nazisymbolen prüfen wolle. Und das, obwohl der Bundesrat erst gerade das Gegenteil beschlossen hatte.

Bei den Ukraine-Flüchtlingen glaubt die Freisinnige jetzt endgültig, dass ihre grosse Stunde schlägt. Mit einer Serie von Auftritten positioniert sich die ehemalige St. Galler Regierungsrätin – damals bekannt als stets nüchtern und besonnen auftretende Politikerin in Sicherheits- und Asylfragen – als eine von Emotionen geleitete Volksvertreterin.

Mit ihren Gefühlswallungen kaschiert die Asylministerin, dass der Bund in der grössten Flüchtlingskrise seit Jahrzehnten planlos unterwegs ist. Es gibt kein Konzept, ausser dass sich das Land solidarisch verhält – mit den Flüchtlingen und den Erwartungen der EU.

Dabei wäre es zwingend erforderlich, dass statt verständlicher Gefühle auch Realitätsbewusstsein wieder ins Zentrum der Entscheidungen rückt. Denn die Auswirkungen der Beschlüsse, die jetzt von Keller-Sutter gefällt werden, sind enorm.

Zweiklassengesellschaft im Asylwesen

Für die Menschen aus dem Kriegsland hat der Bundesrat den Schutzstatus «S» aktiviert. Die vertriebenen Menschen werden mit diesem Label bessergestellt als Personen, die wegen der Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommen.

Ab dem ersten Tag können sie Sozialhilfe beziehen oder – falls gewünscht – einen Job suchen und arbeiten. Jederzeit dürfen sie Familienmitglieder in die Schweiz holen. Nach fünf Jahren erhalten sie eine Aufenthaltsbewilligung B. Gleichzeitig erleichtert ihnen der Bund die «soziale und berufliche Integration», wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) schreibt.

Es ist anzunehmen, dass wie nach dem Jugoslawienkrieg vieleMenschen hierbleiben werden.

Trotz dieses Angebots rechnen Keller-Sutter und das SEM damit, dass viele der Ukrainerinnen – siebzig Prozent der Angekommenen sind Frauen – wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen. Aber ist das realistisch?

Schon vor dem russischen Angriff war die Ukraine ein dysfunktionaler Staat – mit hoher Korruption, Gewalt und einer Wirtschaftsleistung, die nur 30 Prozent des EU-Durchschnittes erreicht. Nun kommt noch die Zerstörung durch den Krieg dazu, die das Leben weiter erschwert und unattraktiver macht. Es ist also anzunehmen, dass, wie nach dem Jugoslawienkrieg in den neunziger Jahren, viele dieser Menschen hierbleiben werden.

Seit dem 12. März herrscht zudem eine Zweiklassengesellschaft im Asylwesen. Hier die Ukrainerinnen und Ukrainer, die mit offenen Armen empfangen werden. Auf der anderen Seite alle anderen Schutzsuchenden, die viele Jahre warten müssen, bis sie ähnliche Privilegien erhalten.

Das sorgt bereits für Unmut. Philipp Kutter, Stadtpräsident von Wädenswil und Zürcher Mitte-Nationalrat: «Es sind Leute an mich herangetreten, die einforderten, dass ukrainische Flüchtlinge eine besondere Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags erhalten. Ich erklärte, das sei nicht machbar, weil wir so Asylsuchende aus anderen Ländern schlechter behandeln würden.» Das Ziel müsse sein, dass sich alle Schutzsuchenden gleichbehandelt fühlten.

Auf dünnem Eis

Die Schweiz befindet sich tatsächlich auf dünnem Eis. Auch wenn es im Bundeshaus niemand offen ausspricht, spielt die unterschiedliche kulturell-religiöse Prägung zwischen den jetzt aus der Ukraine fliehenden und den restlichen Zuwanderern bei dieser Privilegierung eine Rolle.

Nun kommen mehrheitlich Frauen und Kinder, in den letzten Jahren waren es viele junge Männer, die Asyl verlangten. Diese Flüchtlinge kommen aus Europa, die anderen stammen oft aus Afrika und dem Nahen Osten.

Wenigstens beim SEM macht man aus diesen nicht unproblematischen Unterschieden keinen Hehl. Bei den Asylbewerbern aus Syrien oder Afghanistan stehe die «Hilfe vor Ort im Vordergrund – aber bedrohte Personen könnten selbstverständlich ein Asylgesuch in der Schweiz stellen».

Die Umstände der Ukrainer sind für das SEM nicht vergleichbar: «Bei der Ukraine ist die Situation ganz anders. Ein europäisches Land wurde überfallen, es herrscht Krieg.» Wahrscheinlich, dass Personen beispielsweise aus Syrien durchaus den Eindruck haben, dass sie ebenfalls ein kriegsversehrtes Land verlassen haben. Verständlicherweise kommt von der linken Seite bereits die Forderung, das Asylsystem solle angepasst werden, das Beispiel des Umgangs mit den Ukrainern müsse Schule machen.

Kein Plan oder Konzept, dafür viele Emotionen von Keller-Sutter und ihren Leuten. Damit mögen sich kurzfristig die Bürger zufriedengeben. Doch über kurz oder lang wird das nicht reichen. Zu viel steht auf dem Spiel.