Zeit ist ein Mysterium. Wir können sie nicht greifen. Nicht einmal beschreiben. Und anhalten schon mal gar nicht. Zeit umgibt uns. Sie vergeht und verrinnt. Mal langsamer, mal schneller. So zumindest unser Eindruck.

War die Zeit schon immer da? Ist die Zeit zeitlos? Absurde Fragen. Zumindest auf den ersten Blick. Denn eine Zeit, in der es keine Zeit gab, scheint ein widersinniger Gedanke. Allerdings ist die Vorstellung einer unendlichen Zeit auch nicht sehr viel leichter zu fassen.

 

Meditation über unsere Vergänglichkeit

Doch so oder so: Klar ist, dass unsere irdische Existenz gegenüber der kosmischen Zeit lächerlich kurz ist. Das, was uns das Wichtigste ist, unsere Lebensspanne, erweist sich gegenüber dem Alter des Universums als nichtige Episode. Ja sogar die Existenz der Menschheit selbst wird zu einer zeitlichen Belanglosigkeit angesichts des Alters der Welt.

Das Medium, in dem der Mensch gegen seine Endlichkeit revoltiert, ist die Literatur. Mit ihrer Hilfe versucht der Mensch dem Schicksal seiner Leiblichkeit zu entgehen. Die Literatur erlaubt es ihm, die eigene limitierte Welt zu verlassen und gleichsam in der Zeit zu reisen. Er kann sich in vergangene Epochen versetzen oder in die Zukunft. Und sie ermöglicht es ihm, seine Träume, Sehnsüchte und Wünsche, seine Ängste und Beschwernisse auch noch Lesern mitzuteilen, die Jahrhunderte später leben. Mit der Literatur überwindet der Mensch zumindest symbolisch seine Sterblichkeit.

Und er kann davon fantasieren, wie es wäre, unsterblich zu sein. Einer der berühmtesten Romane, der sich mit der Frage auseinandersetzt, wie es wohl wäre, ewige Jugend gepachtet zu haben, ist Oscar Wildes «Das Bildnis des Dorian Gray». Der Roman erzählt die Geschichte des im Titel genannten Helden. Am Anfang des Romans ist Dorian ein ebenso naiver wie aussergewöhnlich schöner Jüngling, dessen Aussehen den Kunstmaler Basil Hallward inspiriert, ein Porträt des Zwanzigjährigen zu malen. Bei Hallward lernt Dorian den geistreichen und snobistischen Lord Henry kennen. Unter dessen zynischem Einfluss beginnt Dorian, ein hedonistisches und ausschweifendes Leben zu führen.

Während Dorian selbst nicht altert, verkommt sein Porträt mehr und mehr zu einer Fratze, zu einem Spiegelbild seiner verkommenen Seele. Als Basil ihn eines Tages zur Rede stellt, ersticht er diesen. Das ist der Anfang vom Ende. Entsetzt schwört er seinem bisherigen Lebensstil ab. Als er das Porträt zerstören will, stirbt er. Sein Diener findet ihn, entstellt und hässlich gealtert, während sein Bildnis in alter Schönheit erstrahlt.

Dieser Roman ist vor allem eine präzise Studie über den Menschen der Moderne, seinen Selbstverwirklichungswahn, seinen Hedonismus, seine Haltlosigkeit. Aber es ist auch eine Meditation über unsere Vergänglichkeit, über die Zeit und über die Möglichkeit, die eigene Endlichkeit nur in der Kunst zu überwinden.

Doch angesichts der Industrialisierung und des technischen Fortschritts fantasierten Ende des 19. Jahrhunderts Menschen nicht nur von einer symbolischen Überwindung der Zeitlichkeit in der Kunst, sondern auch mittels moderner Technik.

 

Meer und erotisches Fieber

In H. G. Wells’ Roman «Die Zeitmaschine» bastelt sich ein nicht namentlich genannter Erzähler ein Gerät, mit dem er durch die Zeit reisen kann. Damit wird er selbst zwar nicht unsterblich, kann sich aber in Epochen katapultieren, die weit jenseits seines persönlichen Lebenshorizontes liegt. In fernster Zukunft trifft er auf eine Welt, in der es nur noch zwei Menschenformen gibt: die friedlichen Eloi und die grausamen, unterirdisch hausenden Morlocks.

Als Kind des 19. Jahrhunderts identifiziert der Held die Eloi als herrschende Klasse und die Morlocks als Proletarier, bis er versteht, dass es umgekehrt ist: Die Morlocks halten sich die Eloi als Futter. Als er schliesslich in eine noch fernere Zukunft reist, ist die Menschheit aufgrund der Sonnenausdehnung schon ausgestorben.

Wells’ Roman ist noch immer ein Klassiker. Er verschränkt für damalige Zeit bemerkenswerte naturwissenschaftliche Überlegungen zur vierten Dimension (Wells schrieb vor Einstein) und zur Evolutionstheorie mit sehr viktorianischen Vorstellungen. Wells Roman bietet also die Möglichkeit, sich mit beiden Aspekten der Zeit auseinanderzusetzen: der Zukunft und der Möglichkeit, in diese zu reisen; und einer untergegangenen Epoche, die Europa nach wie vor prägt wie keine andere zuvor.

Eine der grossartigsten Fähigkeiten der Literatur ist es jedoch – ganz ohne Maschine, nur in der Fantasie – in eine Vergangenheit zu reisen und dort die Gegenwart zu entdecken. Im besten Fall erkennt man dann die Belanglosigkeit zeitgenössischer Erregungen, Ängste und Konvulsionen.

Ein in diesem Sinne zeitloses Meisterwerk ist Eduard von Keyserlings Roman «Wellen». Mit grosser poetischer Kraft entführt er den Leser in ein schwüles und flirrendes Hochsommerszenario an der Ostsee. Es sind die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Die Ideen der Moderne sickern in die Köpfe der Menschen, doch die gesellschaftlichen Strukturen und die Moral sind die des 19. Jahrhunderts. In einem Fischerdorf trifft eine Offiziersfamilie auf die schöne und verführerische Gräfin Köhne-Jasky, die an der Seite eines jungen Kunstmalers aus den Zwängen der Gesellschaft ausgestiegen ist. Pendelnd zwischen moralischer Entrüstung und erotischem Begehren, projizieren die anderen Gäste, Männer wie Frauen, ihre sexuellen Ängste und Sehnsüchte auf die angebliche verruchte Gräfin.

In der Sommerhitze steigt das erotische Fieber. Tochter und zukünftiger Schwiegersohn der adligen Offiziersfamilie verfallen der erotischen Ausstrahlung der Gräfin. Ihr Liebhaber aber kommt bei einem Sturm ums Leben.

Der wichtigste Protagonist dieses wunderbaren Romans jedoch ist das Meer, seine Weite und Unendlichkeit, gegenüber dem die Sehnsüchte, Träume und Konflikte der Menschen klein, lächerlich und belanglos wirken. Die Menschen und ihre Wallungen kommen und gehen. Das Meer, sein Rauschen und der stoische Takt seiner Wellen bleiben.

Doch zur Wahrheit des Lebens gehört nicht nur, dass es gegenüber den Elementen der Natur winzig und bedeutungslos erscheint, sondern auch dass jede Minute, jeder Tag des Lebens ein unendlicher Kosmos des Erlebens, Fühlens und Begehrens ist. Jeder einzelne Tag ist eine unendliche Geschichte.

 

Joyce seziert die Unendlichkeit

In keinem Roman wird die Unendlichkeit des Endlichen grossartiger (und beeindruckender) durchdekliniert als in James Joyces «Ulysses». In diesem Jahrhundertwerk beschreibt Joyce einen Tag, es ist der 16. Juni 1904, im Leben des Dubliner Anzeigenverkäufers Leopold Bloom. Dieser moderne Odysseus lässt sich durch die Grossstadt treiben. Anders als Homers Odysseus ist sein moderner Wiedergänger jedoch kein Held, sondern ein doppelt Gedemütigter: Seine jüdische Herkunft provoziert antisemitische Anfeindungen, seine Frau Molly betrügt ihn.

Der Leser erlebt, wie Bloom das Frühstück für seine Frau zubereitet, auf eine Beerdigung geht, Bekannte trifft, in einem Pub ein Sandwich isst und in die Nationalbibliothek geht. Dort kreuzt er den Weg von Stephen Dedalus, einem ehemaligen Medizinstudenten, den der Leser schon aus dem ersten Kapitel des Romans kennt. Doch die Wege von Dedalus und Bloom trennen sich. Erst nach zahlreichen weiteren Episoden treffen sie sich, es ist inzwischen Nacht, unter trinkenden Medizinstudenten wieder. Bloom rettet Dedalus aus einem Bordell. Danach landen sie in Blooms Haus und trinken eine Tasse Schokolade. Schliesslich sinkt Bloom erschöpft neben seiner Frau Molly in das Bett, das noch deutliche Spuren ihrer Untreue trägt. Molly hingegen lässt ihren Tag noch einmal Revue passieren. Ihr berühmter innerer Monolog endet mit der Erinnerung an Blooms Heiratsantrag und ihre Antwort darauf: «Ja ich will Ja.»

«Ulysses» ist ein Monument, ein Schlüsselwerk der Literatur der Moderne. Es auf einen Aspekt zu reduzieren, wäre lächerlich. Worum es aber auch geht, ist die Zeit. Die Odyssee des Leopold Bloom dauert keine zehn Jahre wie ihr antikes Vorbild, sondern einen Tag. In diesem Tag gerinnt ein ganzes Leben, eine ganze Welt, eine Gesellschaft. Joyce klammert kein Thema aus: Sexualität, Untreue, Alkohol, Kunst, Diskriminierung, Geburt und Tod, soziale Ungerechtigkeit, die grossen Träume und die kleinen Tragödien.

«Ulysses» ist kein einfacher Schmöker. Dazu ist er sprachlich zu innovativ und zu andeutungsreich. Zugleich gibt es vermutlich keinen anderen Roman, der dermassen luzide die Unendlichkeit unserer Endlichkeit seziert.

Doch nicht nur Menschen sind endlich. Auch Gesellschaften und Kulturen. Der markanteste Epochenbruch in der Moderne ist der Erste Weltkrieg. Man muss sich nur auf alten Fotos die Mode kurz vor und kurz nach dem Krieg anschauen, um zu verstehen, wie radikal sich die Gesellschaft und das Lebensgefühl der Menschen verändert haben.

Diesen Umschlag von der Welt des Fin de Siècle zur klassischen Moderne hat kaum jemand ergreifender geschildert als Stefan Zweig in seiner autobiografischen Schrift «Die Welt von gestern». Als die Welt von gestern untergeht, im Jahr 1914, ist Zweig 33 Jahre alt. Zweig schildert in seinen Erinnerungen also weniger die Welt von gestern als das Entstehen der Welt von heute, jener Moderne im engeren Sinne, die mit dem Ersten Weltkrieg begann und deren Ende wir jetzt erleben. Diese Moderne ist eine Zeit radikaler Umbrüche, von Erschütterungen und Verunsicherungen, auf die die Menschen mit politischer Radikalisierung reagieren.

Dieser Moderne gegenüber war die Welt von gestern eine Welt der Sicherheit, der Berechenbarkeit und der Stabilität. Das bewahrte die Menschen davor, sich politischen Extremen zuzuwenden.

Keine Frage, Zweig malt ein idealisiertes Bild jener Welt von gestern, das Bild eines privilegierten Grossbürgersohns, der im Moment der Niederschrift ein Heimatloser ist und mit Wehmut auf jene Glanzjahre Europas zurückblickt, von denen aus es so leichtfertig in die Katastrophe schlafwandelte. Dennoch sind Zweigs Erinnerungen eine ergreifende Lektüre. Nicht nur, weil man einen tiefen Einblick in die Kulturwelt der zwanziger Jahre bekommt und den Nachhall jenes grenzenlosen Kontinents spürt, der Europa einmal war, sondern auch ein Gefühl für den Strudel entwickelt, den historische Umbrüche und Zeitenwenden darstellen.

 

Immer wieder zurückgeworfen

Aufgrund dieses permanenten Vergehens der Zeit wird in Menschen mitunter der verständliche Wunsch wach, die Zeit möge einfach stillstehen oder es sei möglich, bestimmte Augenblicke des Lebens noch einmal zu durchleben. Ken Grimwood hat diesen Gedanken in seinem 1986 erschienenen Roman «Replay» durchgespielt. Bekannter als die literarische Vorlage ist der auf ihr basierende Film «Und täglich grüsst das Murmeltier» von 1993, in dem der von Bill Murray dargestellte Wettervorhersager immer wieder denselben Tag durchleben muss.

Grimwood spielt im literarischen Original die verschärfte Version dieses Gedankenexperiments durch. Sein Held Jeff Winston muss immer wieder die letzten 25 Jahre seines Lebens durchleben, von seinem achtzehnten Lebensjahr 1963 bis zu seinem Tod durch einen Herzinfarkt 1988. Nach seinem Tod wird Winston immer wieder zurückgeworfen, wacht jedoch, ohne es zunächst zu bemerken, stets ein paar Stunden später auf. Es ist ihm daher unmöglich, sein Leben genauso zu leben wie in dem Leben davor. Schliesslich werden die Abstände zwischen Wiedergeburt und Herzinfarkt immer kleiner, bis sich alles zu einem einzigen, grossen Schmerz verdichtet – und Winston endlich sein Leben als 43-Jähriger fortsetzen kann.

Grimwoods Roman versucht die Fragen als Versuchsanordnung durchzuspielen, die wir uns alle schon einmal gestellt haben. Was wäre, wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte? Würde alles wieder genau so kommen? Oder ganz anders, auch gegen meinen Willen? Welche Bedeutung hat der Zufall für die eigene Biografie, welche für unsere persönlichen Entscheidungen?

 

Reise in die eigene Erinnerung

Doch natürlich braucht es keine mirakulösen Vorgänge, um in die Vergangenheit zu reisen und über die Wechselfälle des Lebens nachzudenken. Dazu reicht auch eine Reise in die eigene Erinnerung wie in Kazuo Ishiguros «Was vom Tage übrigblieb», verfilmt 1993 mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen.

Erzählt wird die Geschichte des Butlers Stevens, der während einer Reise von seinem Dienstort Darlington Hall nach Cornwall auf sein Leben zurückschaut. In Cornwall will er die ehemalige Haushälterin von Darlington, Miss Kenton, besuchen und sie überreden, an ihre alte Arbeitsstelle zurückzukehren. Während der einwöchigen Fahrt erinnert sich Stevens an die gute alte Zeit und lässt den Leser teilhaben an seinem Ideal des vollendeten, würdevollen Butlers.

Diese Auffassung von Ehre, Haltung und Loyalität wird auf der Reise durch den Kontakt mit der einfachen Dorfbevölkerung in Frage gestellt. Als Miss Kenton Stevens dann auch noch gesteht, dass sie sich einst ein gemeinsames Leben mit ihm hätte vorstellen können, gerät dessen Lebensentwurf endgültig ins Wanken. Auf dem Pier von Weymouth beschliesst er, seine alte Stellung aufzugeben und ein weniger formelles, ein freieres und ungezwungenes Leben zu beginnen.

Der Frage nach dem «Was wäre gewesen, wenn . . .?» kann man sich zurückblickend nähern wie der Butler Stevens, man kann sich vorstellen, man könne sein Leben noch einmal leben wie Jeff Winston, doch was, wenn man sich selbst in der Gegenwart gegenüberstehen würde? Dieses Gedankenexperiment hat 2020 der französische Autor Hervé Le Tellier durchgespielt, der nebenbei Mathematiker, Linguist und Mitglied der experimentellen Autorengruppe Oulipo ist.

 

Eine Art Doppelleben

In seinem Roman «Die Anomalie» gerät am 10. März 2021 eine Boeing 787 auf ihrem Weg von Paris nach New York in heftige Turbulenzen, doch die Landung glückt. Allerdings landet dieselbe Maschine am 24. Juni mit denselben Passagieren ein zweites Mal. Im Flugzeug sitzen unter anderem der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der homosexuelle Afropop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel und eine amerikanische Schauspielerin. Sie alle führen irgendeine Art von Doppelleben. Und nun gibt es sie tatsächlich doppelt.

Seine verschiedenen Protagonisten geben Le Tellier die Möglichkeit, mehrere Genres in einen Roman zu packen: Thriller, Komödie, Tragödie, Selbstbetrachtung. Der Roman ist eine witzige, abgedrehte, experimentelle und kurzweilige Meditation über Wahrheit, Authentizität, das richtige Leben und natürlich – die Zeit.

«Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiss ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiss ich es nicht», schrieb einst Augustinus. Der Literatur gelingt es wie keiner anderen Kunst, sich dem Phänomen Zeit zu nähern, unserem Zeitgefühl, dem Vergehen der Zeit, ihrer Ewigkeit und unserer Endlichkeit. Dass es auf unsere Fragen zur Zeit keine Antworten gibt, liegt im Wesen der Sache. Wer das nicht glauben mag, der greife abschliessend zu Marcel Prousts «À la recherche du temps perdu».