Mariupol ist ein riesiges Schlachtfeld. Vom zwölf Kilometer nördlich gelegenen Dorf Nikolvski aus sieht man über der Stadt eine riesige Rauchwolke, die von russischen Flugzeugen und Hubschraubern überflogen wird.

An der Stadtgrenze beobachten wir einen Kontrollpunkt tschetschenischer Soldaten, auf deren Militärfahrzeugen die grün-rote Flagge der Kaukasusrepublik mit dem Konterfei ihres Anführers Ramsan Kadyrow prangt. Wir folgen der Spur der russischen Panzer und gelangen in zerstörte Gebiete. Die sowjetischen Plattenbauten, die noch stehen, sind vollständig ausgebrannt, von vielen ist aber nur noch ein Schutthaufen übrig. Rundherum fallen Bomben und Raketen. Es vergeht keine Minute, in der wir nicht eine laute Explosion hören. Während die russischen Panzer auf das Zentrum zielen, fliehen verzweifelte Menschen massenweise in die entgegengesetzte Richtung. Einige sind zu Fuss unterwegs, mit Koffern oder kleinen Kindern auf dem Arm. Andere in Autos, an deren Fenstern weisse Laken oder Tücher befestigt sind. Fast alle sind auf dem Weg zu Treffpunkten in den Vororten, wo sich diejenigen sammeln, die in Gruppen fliehen wollen.

Eines dieser Zentren ist ein Parkplatz am westlichen Eingang der Stadt, wo mehrere Busse auf ihrem Weg in die Region Donezk vorbeifahren. Hier warten Hunderte von Menschen darauf, die umkämpfte Stadt zu verlassen: «Wir haben vier Wochen lang in den Kellern unseres Hauses gelebt», sagt Natalia, eine 28-jährige Frau, die auf einem Bett am Strassenrand sitzt. «Wir hatten keinen Strom, kein fliessendes Wasser und kaum etwas zu essen.»

Wer sich an uns wendet, fragt als Erstes, ob er unser Telefon benützen dürfe. In den Bunkern, in denen sie lebten, gab es keine Verbindung zur Aussenwelt. Sie konnten ihren Lieben deshalb nicht mitteilen, dass sie noch lebten. Wohin wollt Ihr gehen, fragen wir sie. Einige sagen, sie würden nach Russland fliehen und dort leben, andere wollen auf die prowestliche ukrainische Seite. «Wir waren schon immer Russen hier», sagt Georg, ein 72-jähriger Herr mit grauem Haar und Goldzähnen, als er in den Bus (in Richtung Donezk) steigt. «Man hat mir gesagt, dass die russische Regierung denjenigen Hilfe anbietet, die nach Rostow am Don ziehen, also gehe ich dorthin, zumal ich dort Verwandte habe.» Natalia, eine Frau in den Fünfzigern, die früher in einem Museum gearbeitet hat und eigentlich in Kiew leben möchte, steigt in denselben Bus ein. «Ich will mich jetzt zuerst einmal vor den Bomben schützen. Dann werde ich sehen, wie es weitergeht.» Auf die Frage, ob sie Russen oder Ukrainer bevorzugen, sind die Flüchtlinge geteilter Meinung. In einem Punkt sind sie sich jedoch alle einig: «Brot, Brot, Brot, Europa, gib uns Brot», schreit Ludmilla, eine stämmige ältere Dame mit einem Schal über dem Gesicht. Keiner hat Zeit, über Politik zu reden, das Wichtigste für diese Leute ist es jetzt, sich vor Hunger und Bomben zu retten.