Deutschlands Wirtschaft fällt zurück. Die Eliten in Politik und Medien sind in heller Panik. Zum ersten Mal seit 1945 droht dem deutschen Parteiensystem eine ernsthafte Gewichtsverlagerung. Je nachdem, was am Wochenende in Thüringen und Sachsen herauskommt, wird sich das Bild der Politik verändern. Wie stark legen die neuen Parteien AfD und BSW zu? Wie viel verlieren die Etablierten? Geht die jahrzehntelange Stabilität und Übersichtlichkeit der deutschen Parteienlandschaft endgültig verloren? Und wenn ja, was hat das zu bedeute? Was wären die praktischen Folgen? Ich glaube, ich sehe es etwas anders als die meisten, die sich dazu äussern. 

Stellt man ab auf die Berichterstattung deutscher Leitmedien von Spiegel bis Frankfurter Allgemeine (FAZ), schaut man sich die Fernsehdiskussionen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk an, drängt sich der zwingende Eindruck auf, die Bundesrepublik Deutschland befinde sich in akuter politischer Gefahr. Vor allem von rechts würde eine Partei, die AfD, nicht nur die machtgewohnte Konkurrenz, sondern, mehr noch, das institutionelle Gefüge Deutschlands insgesamt bedrohen. Selbst in der Schweiz ist mit Blick auf die Wahlen in Thüringen und Sachsen auffällig oft die Rede von der «Zerbrechlichkeit der liberalen Demokratie» in der Bundesrepublik. 

Müssen wir uns Sorgen machen? Marschieren in Deutschland bald wieder die finsteren Legionen der Vergangenheit? Fast könnte man es meinen. Mit routinierter Selbstverständlichkeit unterscheiden die deutschen Medien mittlerweile zwischen «demokratischen» und «undemokratischen» Parteien, wobei auch die angeblichen Undemokraten in den Parlamenten sitzen, also gewählt sind, was die Frage aufwirft, worauf sich die journalistischen Befunde eigentlich stützen. Sich öffentlich zu bekreuzigen, wenn der Name AfD nur schon fällt, ist zum eingeübten Ritual geworden, zu einer Art Bekenntniszwang, den man allen, die dazugehören wollen, abverlangt. 

Kurios wird es, wenn der Bundespräsident, dessen Auftrag in der einigenden Vertretung des ganzen Volkes besteht, die deutsche Bevölkerung in die «Erreichbaren» und in die «Unerreichbaren» unterteilt. Man könnte auch sagen: in die «Guten» und die «Bösen». Wer als Präsident so redet, hat sein Land schon aufgegeben. Oder aber er missbraucht sein hohes Amt zu parteipolitischen Zwecken, indem er jenen Teil der Wählerschaft, der anderer Meinung ist als er, ausgrenzt, anschwärzt, moralisch ausbürgert. Anstatt das durchsichtige Spiel zu durchkreuzen, machen die Medien mit. Auch sie glauben überall «Demokratieverächter» und «Diktatorenfreunde» zu erspähen.

Sässen in Deutschland die «Demokratieverächter» und «Diktatorenfreunde» oder die von ihnen gewählten Politiker tatsächlich zu Hunderten in den Parlamenten, wäre dies ein gewaltiger, ja epochaler Behördenskandal. Kein demokratischer Staat ausser Deutschland investiert so viel Geld und Personal in die flächendeckende Überwachung seiner Bevölkerung, um diese angeblich vor sich selbst zu schützen. Völlig undenkbar, dass so viele «Feinde» der Demokratie am scharfäugigen Verfassungshüter Haldenwang und an dessen Chefin Faeser unerkannt vorbeigeschlichen wären. Wenn doch, müsste man wegen erwiesener Unfähigkeit das Amt sofort schliessen. 

Als Schweizer überblicken wir nicht alle Geländekammern der deutschen Innenpolitik. Aber ich kenne die meisten Gründer der AfD persönlich. Mit einigen habe ich in Deutschland als Journalist zusammengearbeitet. Andere habe ich später kennengelernt. Die meisten von ihnen waren Mitglieder der CDU, haben die Partei aber aus Protest gegen Kanzlerin Merkel verlassen. Inzwischen sind mehr als eine halbe Million frühere SPD-Wähler bei der AfD dazugestossen. Die Behauptung, hier würde sich ein staatszersetzendes Monster in der Tradition von Hitlers rot-braunen Brigaden formen, ist lächerlich. Geschichtsblind. Und eine Beleidigung aller heute lebenden Deutschen.

Soweit ich sehe, fordert die AfD keinen diktatorischen Rassenstaat im Gefolge der NS-Ideologie. Sie will im Gegenteil mehr direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild. Auch die Unterstellung, das AfD-Programm sei rechtsextrem, will nicht so recht verfangen. Ist der Ruf nach Einhaltung der deutschen Asylgesetze und einer geregelten Zuwanderung «rechtsextrem»? Oder die Kritik am Kernkraft-Ausstieg und der Klima-Politik? Etwas diffus bleibt der aussenpolitische Kurs der Partei in Sachen EU oder Nato, aber auch dies rechtfertigt die rabiaten Vorwürfe bei weitem nicht. Kurzum: Die AfD und ihre Wähler hätten seitens ihrer Kritiker mehr Sachlichkeit verdient. 

Auch das Theater um den Thüringer AfD-Spitzenkandidaten Björn Höcke geht an der Wirklichkeit vorbei. Deutsche Freunde warnen mich, seinen Namen ohne Bekundung tiefempfundenen Widerwillens überhaupt nur in den Mund zu nehmen. Alle sind sich einig, glauben in dieser Reizfigur nun also wirklich den unumstösslichen Beweis für die Demokratie-zermalmende Gefährlichkeit der AfD zu sehen. 

Provoziert durch diese Betonwand des Einvernehmens, habe ich Höcke getroffen und interviewt. Halte ich ihn für den genialsten Politiker der Bundesrepublik? Nein. Ist er für mich der neue Hitler? Nein. Hat der Langzeit-Parlamentarier Höcke in Erfurt jemals etwas gemacht oder beantragt, was die Demokratie gefährden oder das Grundgesetz verletzen würde? Nicht, dass ich wüsste. Ausserdem wäre der nach Trump wohl meistbeobachtete, meistdurchleuchtete Politiker des Westens schon längst hinter Schloss und Riegel, wenn man wirklich etwas gegen ihn in der Hand hätte.

Offensichtlich ist mein Vertrauen in die Demokratiefähigkeit der Deutschen grösser als das der meisten deutschen Journalisten und Politiker. Deutschlands Demokratie steht nicht am Abgrund. Berlin ist nicht Weimar, aber die Traditionsparteien fürchten den Entzug der Macht. Sie rufen «Demokratie», aber meinen sich selbst, so, als ob die Kritik an der Regierung ein Angriff auf die Institutionen wäre. Wenn Hitler das einzige ist, was den Etablierten gegen die Opposition noch einfällt, muss der intellektuelle Notstand riesig sein. Nicht Hitler (oder Höcke) aber ist das grosse Problem der Bundesrepublik, sondern eine falsche rot-grüne Politik. In Thüringen und Sachsen findet kein Aufstand gegen die Demokratie statt, sondern deren Verwirklichung