Frankreich bleibt die führende Literaturnation. Es hat die meisten Nobelpreisträger. In jüngerer Zeit bekamen die Auszeichnung Jean-Marie Le Clézio (2008) und Patrick Modiano (2014). Jetzt ist die erste Französin an der Reihe: die 1940 in Yvetot geborene Annie Ernaux, aufgewachsen in einer Epicerie.

Dieses Milieu und ihre Emanzipation durch die Literatur hat sie in grossartigen Büchern beschrieben. «Die Jahre» sind ein meisterhaftes Porträt der Epoche – und zum Kultbuch geworden.

Die Jury des Nobelpreises bleibt sich treu: sie frönt dem herrschenden Zeitgeist. «Gender, Sprache und die soziale Klasse», schreibt die Jury in ihrer Begründung. Sie macht ihre Auserwählte zur Alibi-Frau: Favorit nicht nur der Buchmacher war ihr Landsmann Michel Houellebecq.

Der Nobelpreis ist verdient. Doch die Entscheidung fiel aus politischen Gründen. In «Das Ereignis» erzählte Ernaux die Geschichte ihrer Abtreibung, als Schwangerschaftsunterbrüche noch verboten waren. Die Verfilmung kam in die Kinos, als die Abtreibungsdebatte in Amerika wieder hochging und wie «Black Lives Matter» nach Europa überschwappte.

Michel Houellebecq schreibt gegen die aktive Sterbehilfe. Sie ist in Frankreich verboten, jetzt wird sie zweifellos eingeführt. Die privaten Krankenkassen agieren als keineswegs passive Befürworter.

Annie Ernaux engagierte sich im Wahlkampf für den linksradikalen Jean-Luc Mélenchon. Wie schon 2017. Sie hatte erklärt, dass sie selbst gegen Marine Le Pen nicht ein zweites Mal Macron wählen würde – das Beste an ihm sei seine Frau.

In ihrer jüngsten Erzählung «Le jeune homme» schreibt sie über ihre Liebschaft mit einem dreissig Jahre jüngeren Studenten. Es ist auch eine Ode an die Literatur. «Wenn ich sie nicht aufschreibe», stellt sie als Motto voran, «sind die Dinge nicht bis zu ihrem Ende gekommen, sie wurden nur gelebt.»

Gleichwohl: Der Literaturnobelpreis 2022 bleibt die richtige Entscheidung zum falschen Zeitpunkt.