Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit. Der Westen, Deutschland, die Schweiz, sie alle führen Krieg gegen Russland. Politiker und Medien streiten das ab, aber es stimmt. Deutschland ist Kriegspartei. Die Bundesrepublik führt gegen Russland mit Sanktionen Wirtschaftskrieg. Man liefert zudem Waffen. Gross ist der Druck auf Kanzler Scholz, deutsche Marschflugkörper in die Ukraine zu entsenden.

Noch hält der Kanzler dagegen, letzter Friedenshüter. Genauer als seine Kritiker scheint der trockene Hamburger zu erkennen, dass der Taurus von Russland als endgültige Kriegserklärung Deutschlands verstanden werden könnte. Bis jetzt liefern die Deutschen Verteidigungswaffen. Der Taurus bedeutet Angriff, Tiefflug, hohe Reichweite. Er könnte den Kreml treffen. Scholz sagt nein zum dritten Weltkrieg. Zum Glück.

Ungeachtet dessen bleiben weite Teile der deutschen Politik auf Angriff, Krieg und Eskalation gepolt. Roderich Kiesewetter von der CDU will den Krieg nach Russland tragen und damit, wie die linke Sahra Wagenknecht bemerkt, nach Deutschland. Auch die FDP trommelt zur Eskalation, befeuert von den Medien. Sie hetzen täglich gegen Russland, Putin, Hitler, alles verschwimmt. Deutschland von Sinnen?

Deutschland muss sich raushalten. So gut es eben geht als Bündnispartner der USA. Für ein Land, das noch vor 80 Jahren Russland vernichten und seine Bewohner versklaven wollte, kommen Angriffswaffen gegen Russland nicht in Frage. Dass die Deutschen der Ukraine helfen, ist legitim. Es gibt aber klare rote Linien. Scholz könnte sich besser erklären, die Kriegsgurgeln zu Hause entschiedener zurückpfeifen.

Dennoch: Der in den Medien derzeit viel geschmähte Regierungschef gibt mit seinem Taurus-Veto ein starkes Lebenszeichen des Friedens. Es ist wie das ferne Wetterleuchten der alten Bundesrepublik bis hin zu Kanzler Schröder. Damals liess sich Deutschlands Politik die Agenda nicht einfach nur aggressiv aus Washington diktieren. Hat Olaf Scholz die Kraft, dem Druck der Kriegsausweiter standzuhalten?

Scholz hat realisiert, was sich in Deutschland niemand auszusprechen traut: Die Ukraine verliert diesen Krieg. Militärisch kann Russland nicht besiegt werden. Die Idee, eine Atommacht militärisch in die Knie zu zwingen, ist verrückt. Im Wahlkampf wird der Kanzler die Deutschen daran erinnern: «Ich habe euch nach Kräften rausgehalten. Mit der CDU und FDP wären wir womöglich in einen dritten Weltkrieg abgestürzt.»

Viele deutsche Politiker reden über den Krieg, aber nur die wenigsten nehmen ihn ernst. Für Russland ist die Ukraine eine Frage des strategischen Überlebens. So, wie die Amerikaner ihre Einflusssphären grimmig und brutal verteidigen, so halten es die Russen. Das ist eine Feststellung, keine Verteidigung. Ausgerechnet Deutschland darf hier keine Angriffswaffen gegen den früheren Weltkriegsgegner schicken.

Ich kann die Arbeit des Bundeskanzlers nicht abschliessend beurteilen. Dafür bin ich zu weit weg. Aber im aktuellen Chor der Schreibtischkrieger scheint er mir eine der letzten Stimmen der Besonnenheit zu sein. Das abgelauschte Gespräch der Offiziere machte deutlich, dass auch in der Bundeswehr die Absicht bestand, «das Ding», also den Taurus, gegen Russland «zum Fliegen zu bringen». Scholz blieb unbeeindruckt.

Das ist nicht wenig, angesichts der fiebrigen Stimmung. In Frankreich macht sich Präsident Macron mit halsbrecherischen Positionswechseln unglaubwürdig. Zu Beginn der russischen Intervention gab er den Brückenbauer. Jetzt ruft er nach Nato-Bodentruppen gegen Putin. Aus Washington kommen ebenfalls verstörende Signale der Eskalation von einer Regierung, die angeschlagen in den Seilen hängt.

Als Schweizer möchte man dem Kanzler zurufen: Deutschland hat eine historische Chance. Die Anti-Putin-Strategie ist gescheitert. Russlands Vormarsch löst unter den Politikern im Westen Panik aus. Es braucht jetzt dringend einen Ruhepol, eine Friedensinsel. Deutschland hat für Russland eine grosse Bedeutung. Es ist nie zu spät, sich der Aufgabe der Verständigung und schliesslich der Versöhnung zuzuwenden.

Bereits werden Stimmen laut, den Deutschen die Neutralität nach Schweizer Muster ans Herz zu legen. Mehr Schweiz wagen! Die Alphatiere im deutschen Meinungs-, Medien- und Politbetrieb werden solche Anregungen unwirsch, überheblich abservieren. Doch der Vorschlag ist gut. Wer, wenn nicht die durch Niederlagen geläuterte Ex-Militärmacht Deutschland könnte heute das Hauptquartier des Friedens sein nicht nur in Europa?

Der Krieg ist eine Bestie. Er macht die Menschen verrückt. Die Geschichte kennt viele Beispiele populärer Kriegsbegeisterung. Sie endete meist in einem Meer von Tränen und Blut. Auch heute scheinen sich leider auch in Deutschland erschreckend viele Medien, Intellektuelle und Parteien an der Vorstellung zu ergötzen, das, was man für die eigenen «Werte» hält, anderen Völker gewaltsam einzubomben.

Vielleicht ist das Taurus-Nein von Kanzler Scholz ein Wendepunkt. Wir werden sehen. Jeder Krieg hat viele Väter. Moralischer Absolutismus schadet nur. Wenn sich Kriegsparteien gegenüberstehen, braucht es Länder und Politiker, die für Frieden, Kompromiss und einen Ausgleich der Interessen stehen. Ich bilde mir ein, der deutsche Kanzler habe die Notwendigkeit erkannt. Viel Kraft und Erfolg, Olaf Scholz!