Kiew, Moskau

Mit routinierter Häme machen sich unsere Medien über Viktor Orbáns Friedenssondierungen in Kiew, Moskau und Peking lustig. Brüssels Eliten schäumen in steriler Wut. Es spricht Bände, wie unser wokes Establishment auf einen Mann losgeht, der in Zeiten akuter Weltkriegsgefahr nicht die Sprache der Waffen, sondern die Diplomatie ins Zentrum rückt: Konversation statt Konfrontation. Jede Woche sterben Hunderte, ja Tausende auf dem Schlachtfeld. Gräuelmeldungen schockieren. Schuld an allem sind selbstverständlich immer nur die Russen. Die Gerichtshöfe der Moral machen kurzen Prozess. Je schlimmer die Untat, desto schneller das Urteil. Um so provozierender erscheint da einer wie Orbán, der sich für Dialog und Frieden engagiert.

Dabei zeigen Orbáns Bemühungen erste Früchte. Von Beginn an hat sich die EU, haben sich die wichtigsten europäischen Regierungen in diesem Krieg als Faktor aus dem Spiel genommen. Der Schock des russischen Einmarsches, menschlich nachvollziehbar, hat, unverzeihlich, zu einem Zustand tobender Hysterie auf Seiten der Regierenden geführt. Die meisten unserer Politiker haben den Kopf verloren. Feindbilder ersetzen rationales Denken. Man tut so, als ob der Westen keine Fehler gemacht hätte und Putin der erste Staatschef in der Weltgeschichte wäre, der mit seinen Armeen eine Grenze überschreitet. Das Resultat ist die totale Gesprächsblockade. Allein die Tatsache, dass Orbán in dieser Situation die diplomatischen Kanäle öffnet, ist ein Erfolg.

Darüber hinaus bewegen sich bereits die Kriegsparteien. Unmittelbar nach dem Orbán-Besuch forderte Selenskyj eine Fortsetzung der Friedensgespräche, diesmal aber, eine Novität, unter Einbezug der Russen. Gegenüber der Schweiz, bei der Aufgleisung der Bürgenstock-Konferenz, hatte Selenskyj dies noch kategorisch ausgeschlossen. Unsere Zeitungen berichten darüber nicht. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. An solchen Fällen von Cancel-Culture und gezielter Weglassung können wir ermessen, wie gross der allgemeine Grad an Desinformation und Propaganda sein muss in der Berichterstattung über diesen Krieg, die unsere Qualitätsmedien in der Pose von Wahrheitsaposteln verbreiten.

Als ich einen russischen Journalisten im Kreml fragte, ob Russland eine Diktatur sei, gab er mir ironisch zur Antwort, er habe sich kürzlich das Fernsehduell zwischen Biden und Trump angeschaut. «Die beste Demokratie der Welt gipfelt im Duell zwischen einem Tattergreis und einem verurteilten Verbrecher. Da bin ich gar nicht so unglücklich, dass unser System, wie immer man es nennen mag, einen wie Putin produziert.» Natürlich trifft die Pointe nicht die ganze Wirklichkeit, aber der Spruch entlarvt die aggressive Überheblichkeit des Westens im Umgang mit einer ihm fremden, aber in vielerlei Hinsicht auch engverwandten Kultur. Die Rede von den «westlichen Werten», von «Demokratie vs. Autokratie» ist ein Rückfall in überwunden geglaubte koloniale Muster.

Ungarns Premierminister Viktor Orbán möchte den Krieg in der Ukraine, das bekräftigt er mit qualifizierter Sturheit seit zweieinhalb Jahren, «minimalisieren und isolieren». Er findet es falsch, dass man diesen Konflikt zwischen zwei ehemaligen Sowjetrepubliken, in den sich unheilvoll die Amerikaner einmischen, zu einem Kreuzzug, zu einem Weltenbrand ausweitet. Es ist beängstigend, wie viele der derzeit noch tonangebenden Politiker in Europa darin einen Skandal erblicken. Auf der anderen Seite kann es nicht verwundern: Orbán entlarvt seine Kritiker als Kriegstreiber, die zwar vom Frieden reden, in der Praxis aber durch die Lieferung von immer mehr und immer noch gefährlicheren Waffen eine für uns alle lebensgefährliche Eskalation betreiben.

In der Lavahitze fiebriger Kriegsbesoffenheit legt nun die Nato weiteres Brennholz nach. Die transatlantische Allianz feierte ihr 75-jähriges Bestehen mit einem Bekenntnis zur Fortsetzung und Ausweitung des Konflikts. Die Anti-Orbáns, deren Anführer Biden in einer Ansprache Selenskyj mit Putin verwechselte, versprachen der Ukraine weitere Arsenale, darunter die atomwaffenfähigen F-16-Jets. Man befinde sich auf einem «unumkehrbaren Weg» und stelle sich auf einen langen Krieg mit Russland ein. Gleichzeitig meldete Washington die Verschiebung von Tomahawk-Raketen nach Deutschland, als ob es sich um einen militärischen Aussenposten handle. Diese Flugkörper, Reichweite 1600 Kilometer, könnten Moskau in Schutt und Asche legen.

Wo sind die Friedensbewegungen, wo sind die Medien? Die deutschen Linken und Grünen, die mit dem Mörderstaat Sowjetunion fraternisierten und den amerikanischen Präsidenten Reagan verteufelten, stehen heute nach einer spektakulären 360-Grad-, Entschuldigung, 180-Grad-Wendung an der Seite der Kriegsbetreiber und Waffenlobbys. Ein rabiater Moralismus, «woke» genannt, hat auch viele Konservative befallen und ebenso die Medien. Eine Neue Zürcher Zeitung, die gegen Hitler noch die «absolute» schweizerische Neutralität und «Gleichbehandlung aller Kriegsparteien» postulierte, fordert heute, was für eine gespenstische Wandlung, den Westen auf, Ziele auf russischem Territorium anzugreifen.

In diesem allgemeinen Wahnsinn wirkt Orbán wie der letzte Besonnene gegen ein Stechschrittheer von Kriegsbeduselten. Als einziger Staatsmann von Statur scheint er gewillt, eine Wiederkehr der schlimmsten Dämonen der europäischen Geschichte zu verhindern. Vor weniger als hundert Jahren lag unser Kontinent nach zwei Weltkriegen in Trümmern. Haben sie es schon vergessen? Geistlose Moralisten mit steinernen Herzen reiten unsere Welt, Zweifel und Widerspruch überdröhnend, immer tiefer in den Abgrund, Schlafwandler, nein, Horror-Clowns wie aus den Büchern von Stephen King. Der Lichtblick: Millionen von Europäern sehen es ganz anders. Für sie ist Viktor Orbán ein Held. Ihre Stimme wird, das ist mehr als eine Hoffnung, an Gewicht gewinnen.